Ist Rudolf Steiner Lehre heute ohne den sektiererischen Zinnober zu haben, ohne gruseligen Spiritualismus, rassistische und antisemitische Anklänge, die darin auch immer – mal mehr, mal weniger deutlich – in seinen Schriften zu finden sind? Offenbar ja: Kreative vertrauen ihre Kinder nach wie vor Waldorfschulen an, die entstanden, als "kreativ" noch "musisch" hieß, Hollywoodschönheiten benutzen die aus der Anthroposophie geborene Kosmetik von Dr. Hauschka und Weleda, und in Aldi-Regalen liegt Bioobst, als hätte es schon immer da hingehört.
Am 30. März vor 100 Jahren ist der Entwickler der anthroposophischen Lehre, der Waldorfpädagogik und der Bewegungskunst Eurythmie gestorben, der ebenso als Vorreiter der biologisch-dynamischen Landwirtschaft wie der organischen Wohlfühlarchitektur à la Frank Gehry gelten darf. 300 Bücher mit Schriften und Redetranskripten gibt es angeblich, in denen der Esoteriker beispielsweise Goethe mit gnostischen Zügen ausstattet und asiatische Philosophie mit dem deutschen Idealismus und Naturwissenschaft verbindet. Und zu den häufig schwafeligen Texte eine Hardware angewandter Anthroposophie: Möbel, Skulpturen, Zeichnungen, Modelle und ganze Häuser, am berühmtesten das von Steiner gegründete Goetheanums im schweizerischen Dornach, dem Jerusalem der Bewegung, ein irrer Doppelkuppelbau.
Obwohl besonders der Waldorf-Kunstunterricht mit seiner stereotypen Forderung nach abgerundeten Ecken und fließenden Formen oft Gegenstand von Spott geworden ist, hat Steiner in der Kunst folgender Generationen Spuren hinterlassen. Wie eine Biokarotte nicht nach "dem Geistigen" schmeckt, das Steiner ständig beschwor, so muss sich auch ein vom Anthroposophenstifter inspiriertes Kunstwerk nicht unbedingt durch formale Auffälligkeiten zu erkennen geben. Das zeigte vor 15 Jahren das gemeinsame Ausstellungsprojekt vom Kunstmuseum Wolfsburg, das Steiner nicht nur mit Arbeiten von Zeitgenossen wie Wassily Kandinsky, Lyonel Feininger, Erich Mendelsohn oder Frank Lloyd Wright zusammenbrachte, sondern auch von (vor allem männliche) Künstlern, die Impulse aus der Steiner-Lektüre empfangen haben, darunter Tony Cragg, Simon Dybbroe Møller und Bernd Ribbeck.
"Die Mysterien finden im Hauptbahnhof statt"
Sucht man nach den Spuren dieses Denkers in der Kunst, sollte man nicht nur nach organischen Formen Ausschau halten, sondern auch nach "ganzheitlichen" Ansätzen, die Form und Inhalt, Leben und Kunst zusammenbringen wollen. Bei Anish Kapoor oder Katharina Grosse – beides begeisterte Steiner-Leser – findet der Betrachter solche Ideen. Carsten Nicolai und Olafur Eliasson setzten sich mit der Naturphilosophie des Lebensreformers auseinander, mit seinem Streben, Wissenschaft und Kunst zu verbinden.
Die deutlichste Spur zurück führt natürlich über Joseph Beuys, der wie kein Zweiter Steiner-Gedanken künstlerischen Ausdruck verlieh und der besonders von den gesellschaftstheoretischen Schriften begeistert war. Doch selbst Beuys betonte, dass es ihm nicht um Esoterik gehe, nicht um Jüngerschaft: "Die Mysterien finden im Hauptbahnhof statt, nicht im Goetheanum."