Tacheles-Räumung

"Die Ideale sind ruiniert, rettet die Ruinen!"

Vor zehn Jahren wurde das Kunsthaus Tacheles geräumt. Die besetzte Kaufhausruine in Berlin-Mitte war ein Symbol des Nachwende-Aufbruchs. Aber auch für die politische Machtlosigkeit der Ostdeutschen

Jedes Mal, wenn ich Anfang der 1990er-Jahre in Berlin war, passierte irgendwas Überaschendes, Furchtbares, Wunderbares, und ich nahm das so hin, weil ich dachte: Das ist eben Berlin. Ich wurde ausgeraubt und beschenkt, ich war Zeuge, wie eine Frau auf dem Kurfürstendamm überfahren wurde und wie Bataillone von trommelnden Skinheads im Bahnhof Lichtenberg aufmarschierten. Und der ganze Berlin-Wahnsinn – Aufbruch, Gefahr, Freiheit – verdichtete sich für uns ostdeutsche Provinz-Kids im Kunsthaus Tacheles. So wunderte ich mich auch nicht, als 1993 in den Ruinen des ehemaligen Kaufhauses vor uns in der Schlange zum hauseigenen Programmkino ein nur mit High-Heels und Fußkettchen bekleideter Mann anstand. Das ist eben Berlin, Menschen gehen nackt ins Kino.

Vor zehn Jahren, am 4. September 2012, wurde das Kunsthaus Tacheles in der Oranienburger Straße in Berlin-Mitte geräumt. Da war das besetzte Haus längst eine Touristenattraktion, ein Nippesladen voller effekthascherischer Schweißkunst und ein Feigenblatt für ein Berlin, in dem die Freiräume für selbstverwaltete Subkulturen nach und nach zugebaut wurden. "Wir waren Vorreiter der Gentrifizierung", sagt der Fotograf Andreas Rost, einer der Erst-Besetzer von 1990, heute selbstkritisch. 

Rost war mit Anfang 20 in der DDR-Bürgerrechtsbewegung in Leipzig aktiv und saß als Student in der Wendezeit für das Neue Forum am Runden Tisch in Leipzig. Schnell wurde ihm bei dieser politischen Arbeit bewusst, dass die Mitgestaltung und Mitsprache der DDR-Bürger bei der Wiedervereinigung gar nicht gefragt sei. "Also dachten wir uns: Wenn wir schon nicht an der deutsch-deutschen Gemüsesuppe mitkochen können, dann wollen wir wenigstens ein Haus. Und da haben wir uns das größte Haus genommen, das da war. Dort wollten wir künstlerisch darauf reagieren, dass wir politisch nicht mitspielen durften. 'Die Ideale sind ruiniert, rettet die Ruinen' war unser Slogan."

"Wir sind gescheitert, aber das Scheitern gehört dazu"

Groß war das 1909 erbaute Haus selbst noch als Ruine: 30 Ateliers fanden in dem im Februar 1990 besetzten Gebäude Platz, riesige Ausstellungs- und Veranstaltungsrräume, das Kino High End 54, die Panorama-Bar und das Café Zapata. "Wir wollten ausprobieren, ob wir das als Kollektiv hinkriegen", sagt Andreas Rost, der sich durch die Documenta Fifteen und deren Kollektivgedanken an diese Zeit erinnert fühlt. "Wir sind gescheitert, aber das Scheitern gehört dazu."

Im Café Zapata sei das Bier an die Tacheles-Crew zum Einkaufspreis ausgegeben worden, Alkohol und Drogen hätten die Stimmung oft kippen lassen, bei Vollversammlungen flogen auch schonmal Flaschen. Auf einmal sei es dann doch einigen darum gegangen, Geld zu machen, besonders mit dem Café. Nach und nach wurde die Ursprungsbesetzer durch Westdeutsche ausgetauscht, so berichtet jedenfalls Rost.

Für uns Provinzkids war das inzwischen unter Denkmalschutz gestellte Tacheles dann bald zu touristisch. Um 2010 war ich doch noch einmal zu einem Konzert im Café Zapatas eingeladen. Ich wunderte mich über die Locationwahl, bis ich merkte, dass hier die Rich-Kids-Freunde des Unternehmers Nikolaus Jagdfeld nochmal ein Berlin feierten, das es längst nicht mehr gab. Die auf Luxus-Immobilien spezialisierte Jagdfeld-Gruppe hatte das Tacheles-Gelände 1998 gekauft, um dort ein modernes Stadtquartier zu bauen. Das Projekt geriet aber in Schieflage. Das Objekt stand deshalb lange unter Zwangsverwaltung der HSH Nordbank.

"Ich empfehle meiner Tochter, mal ein Haus zu besetzten"

Die Bank hatte als Zwangsverwalterin das Gelände für 35 Millionen Euro verkaufen wollen. In einem jahrelangen Rechtsstreit setzte sie 2012 die Zwangsräumung der zuletzt von 40 bis 60 Künstlern genutzten Kaufhausruine durch. Danach war der Zugang versperrt. 2014 verkaufte die Jagdfeld-Gruppe das Gelände für 150 Millionen Euro an einen international tätigen Finanzinvestor. Seither wird hier ein Stadtquartier für geschätzte 600 Millionen Euro entwickelt, natürlich wurde bereits zur Legitimation wieder Kunst gezeigt, und zur Art Week 2023 will das schwedische Fotografiemuseum Fotografiska einen Ableger eröffnen

"Wir sind nicht die richtigen Leute, um zu kritisieren, was heute dort steht", sagt Andreas Rost. Schließlich hätten er und die anderen Besetzer den Weg dahin bereitet. Er, der Chronist der ersten Jahre, dessen Aufnahmen (oben eine Auswahl in der Bildstrecke) Zeugnis geben von der Nachwendezeit, blickt zufrieden zurück auf seine Tacheles-Jahre: "Ich empfehle meiner Tochter, mal ein Haus zu besetzten. Man lernt dabei etwas fürs Leben."

Ich habe seit 1993 nie wieder in Berlin einen nackten Menschen im Kino oder auf der Straße gesehen. Nicht, dass ich darüber besonders unglücklich wäre, aber es erinnert mich daran, dass in einer kapitalistischen Stadt nur kleine Freiräume möglich sind, während die großen Utopien von oben und von unten zerrieben werden.