Zum Tod von René Pollesch

Der Markt sind wir

Rene Pollesch 2020 im Schauspielhaus Nürnberg
Foto: Daniel Karmann/dpa

Rene Pollesch 2020 im Schauspielhaus Nürnberg

Als Autor und Regisseur hat er das Theater lange vor Florentina Holzinger auch für die Kunstcrowd attraktiv gemacht. Nun ist der einzigartige René Pollesch mit nur 61 Jahren gestorben

Im Prinzip war René Pollesch von Anfang an zu alt, um Klassensprecher des Neuen im Theater zu werden. Arbeiterkind René studierte im ersten Jahrgang der Angewandten Theaterwissenschaften in Gießen, ging nach London, produzierte in der Freien Szene Berlins, die in den 1990er-Jahren noch nicht so breit gefördert wurde wie in den Jahrzehnten nach der Hauptstadtwerdung. Erst kurz vor seinem 40. Geburtstag, was damals älter war als heute, startete er durch und lag damit deutlich über dem Altersdurchschnitt seines Publikums. Zumindest jener Fans, die ihm sofort zu Füßen lagen. Das passierte überall, wo er arbeitete, und das war ja schon so gut wie überall: Ab 1999 erst gleichzeitig an der Berliner Volksbühne unter Frank Castorf, bei Tom Stromberg im Schauspielhaus Hamburg sowie im beschaulichen Luzern in der Schweiz bei Barbara Mundel (die heute Intendantin der Münchner Kammerspiele ist).

Danach folgten alle andern. An die 200 Stücke dürften es gewesen sein in den letzten 25 Jahren an fast so vielen Häusern. Praktisch immer von Pollesch selbst inszeniert, er gab die Stücke in der Regel nicht frei für andere Regien (er hätte damit viel Geld verdienen können). Weil er seine Arbeit als Praxis mit konkreten Schauspielerinnen und Schauspielern verstand.

Dass manche Stücke der einzelnen Schaffensphasen dann doch sehr ähnlich klangen, ob sie nun an Edelbühnen wie im Wiener Burgtheater oder im Schauspielhaus Zürich aufgeführt wurden, muss kein Widerspruch sein: Polleschs Ästhetik ging nie von der Einzigartigkeit seiner Person oder auch anderer aus. Als Autor thematisierte er vielmehr, wie die größten Kräfte unserer Zeit durch alle Körper hindurch gehen und ihre disziplinierenden Spuren hinterlassen. Denn: "Meine Identität wird irgendwie reguliert. Warum darf nur der Markt dereguliert sein und nicht meine beschissene Identität?"

Das Zitat stamm aus "Frau unter Einfluss", im Juni 2001 im Prater der Berliner Volksbühne aufgeführt, als Pollesch die Nebenspielstätte zur Hauptsache machte (der ewige Chef Castorf, damals bereits im ersten Formtief, verließ manchmal Premieren von Pollesch vorzeitig).

Linke Theorie an die Körper der Schauspieler weiterspielen

Oder, aus dem gleichen Einheitsbühnenbild, der Wohnfront, die Bert Neumann 2001 in den Prater baute und damit maßgeblich half, Pollesch auf Jahre hinaus zum heißesten Scheiß zu adeln: "B: Da hat sich ein Unternehmen in dich verflüssigt. P: Ja, ich WEISS. F: Und die Scheisse! A: Und jetzt verkaufst du dich hier, du Dienstleistungsunternehmen. B: Du wurdest erbeutet vom Selbstmanagement. A: Und diese Marketing-Razzia hier reguliert dein Leben nach dem, was davon du verkaufen kannst."  

So klang es in "Stadt als Beute" nach einem Buch der Stadtforschungsgruppe Spacelab. Wie kein Zweiter konnte Pollesch linke Theorie an die Körper der Schauspieler weiterspielen, die dafür auch eigene Worte fanden. Erst stand man in der theorieaffinen Buchhandlung Pro Quadratmeter in Berlin herum und diskutierte, später kam das auf die Probebühnen in Berlin, Stuttgart, Wien, Zürich.

Entsprechend war der Sog seiner Kunst gerade auf Leute, die schon lange nichts mehr ins Theater zog. Das Theater von Frank Castorf brauchte meistens viel Bildungsvoraussetzung, um überhaupt noch irgend etwas zu verstehen (den ganzen Dostojewski etwa, dazu gerne Baudrillard, Sartre und Stalin sowieso). Pollesch nicht, trotz Theoriebackground. Weil die Schauspieler die Theorien ja auf der Bühne besprachen, durch die Mangel drehten, in Loops variierten, um es zu verstehen oder es zu veralbern.  Und ein bisschen war Pollesch in den Nullerjahren auch das, wofür Techno im Nachtleben der 90er stand: ein cooles Territorium, das Ost und West nicht trennte, sondern in neuen Fragen der absoluten Gegenwart und Zukunft vereinte.

Klassensprecher für das Neue

Und so hatte es schon seine Richtigkeit, dass der 1962 in Hessen geborene René Pollesch gerade wegen seines Altersunterschieds zu seinen ersten Fans der viel bessere Klassensprecher für das Neue war als manche Jüngere. Weil er nie Teil einer Jugendbewegung sein wollte, wurde er so sehr geliebt für seine Komplexität, seine Ästhetik und seine Kritik, die vor dem eigenen Lebensentwurf, vor der eigenen Arbeit nicht Halt machten. Das geht besser, wenn man gar nicht erst in Versuchung kommt, eine Galionsfigur einer Generation darzustellen.

Mit der Zeit haben die besten seiner immer guten Schauspieler den furiosen Schnellsprech gedrosselt. Weil die Geschwindigkeit längst die Gefahr des Manierismus in sich barg. Weil es sich lohnte, den Texten besser folgen zu können. Leider hat das nicht immer zu einer kritischen Auseinandersetzung mit diesem kritischen, im Umgang aber oft so fröhlichen und freundlichen Geist geführt.  Die Rezeption teilte sich früh in bedingungslose Gefolgschaft auf der einen und geschmäcklerische Krittelei auf der andern Seite.

Als er 2021 Intendant der Volksbühne wurde, konnte diese Standardaufstellung erst recht nicht mehr verändert werden. Seine eigenen Arbeiten überdeckten manchmal die Löcher im Programm, gerade die Soloabende mit Fabian Hinrichs mit dem nun schrecklich passen klingenden Titel "Ja, nichts ist ok" oder etwa die Rückkehr von Sophie Rois in "Mein Gott, Herr Pfarrer". Die Abende von Florentina Holzinger, aufwendige Koproduktionen, prägten das Haus noch stärker.

Aber das ist das Risiko eines wahrlich Einzigartigen wie Pollesch, dass die Gefolgschaft die grenzenlose Liebe der Kritik vorzieht. Das klingt seltsam bei einem wie Pollesch: der Einzigartige. Weil das eine so derart bürgerliche Kunstkategorie ist, die seiner Ästhetik zum einen widerspricht. Zum andern stützt sie aber ihren Kern, dass es kein Außerhalb dieser Verstrickungen in Kapitalismus und Theater geben kann, so lange nicht ganz vieles anders wird. Er bleibt der Einzigartige, der uns vom gemeinsamen Schicksal überzeugen wollte. Nun ist er, wie man hört zwei Wochen nach einer Herzoperation, offenbar doch "unerwartet" gestorben, wie die Volksbühne schreibt. Er wurde nur 61 Jahre. Kein Alter.