"Instagram hat ein Monster kreiert", titelte "Spiegel Online" kürzlich. In meinem Kopf liefen plötzlich mehrere Filme parallel. Der eine, eine düstere, kulturpessimistische Dystopie, erzählte davon, dass wir alle in Bilderfluten ertrinken. Der andere, die Vorlage war ganz offenbar eine Folge der Netflix-Serie "Black Mirror", handelte davon, dass wir uns alle den ganzen Tag gegenseitig in jeder Lebenslage bewerten, um irgendwelche Punkte für irgendetwas zu sammeln. Und noch ein anderer erinnerte mit einem Robin Williams Double in der Hauptrolle daran, dass die Hölle millennial pink ist. Der Ort der Handlung war eines dieser amerikanischen Pop-up Museen, in das Leute gehen, um Selfies für Instagram mit überlebensgroßem Eis zu machen und sich dafür sieben Stunden in eine Schlange stellen.
Der "Spiegel"-Artikel lieferte auch eine Wiederholung. Eine junge Frau wurde durch Instagram so süchtig nach Anerkennung, dass sie am Ende nur noch 46 Kilogramm wog. Zu viel Sport, zu wenig Essen. "Louisa hätte ihr Influencer-Dasein fast das Leben gekostet. Ihre Geschichte ist extrem - aber zugleich auch symptomatisch für eine Branche, die nach dem Schöner, Hipper, Extravaganter giert, immer auf der Jagd nach neuen Likes und Followern. Ist es nicht naiv, Influencer als die neuen Stars unserer Zeit zu feiern?" Ist es nicht naiv, im Fernsehen Heidi Klums "Germany’s Next Top Model" weiter auszustrahlen oder Hefte wie das bestimmt nur versehentlich frauenfeindliche Frauenmagazin "InTouch" zu machen?
Das Zitat "Instagram hat ein Monster kreiert" stammt übrigens von der italienischen Bloggerin Sara Melotti, die außerdem sagte, dass es nur noch um Zahlen gehe, nicht um Fotos und dass der Druck enorm sei, auf der Plattform zu bestehen.
Vielleicht liegt hier ein Missverständnis vor. Es ist nicht gesetzlich vorgeschrieben, aktiv in sozialen Medien wie Instagram zu sein. Vielleicht, ganz sicher sogar, ist auch einfach nur unser Gehirn schuld. Der Soziologe Steffen Mau wies in seinem Buch "Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen" noch einmal darauf hin, dass in Experimenten gezeigt wurde, dass das Belohnungssystem des Gehirns anspringt, wenn Likes eintrudeln. "Je stärker nun das Gehirn auf diese Form der Anerkennung reagiert", schreibt er, "desto intensiver und zeitlich ausgedehnter nehmen die Menschen an den sozialen Medien teil, immer angetrieben vom Interesse an sozialer Anerkennung."
Rauchen ist schädlich, das ist gemeinhin bekannt, sehr unangenehme Fotos auf Zigarettenpackungen warnen vor Gesundheitsschäden. Wenn Raucher aus diesem Wissen für sich Konsequenzen ziehen, werden sie zu Nichtrauchern. Warum also nicht einfach Nichtinstagrammer werden, wenn der Druck zu groß ist?
Michael Stipe hat es, so wie es aussieht, vorgemacht. Der Sänger hatte angekündigt, 1.000 Postings und nicht mehr, bei Posting 999 ist jetzt offenbar Schluss. Michael Stipe hatte Spaß, mit dem Geschäftsmodell von Instagram ist er nicht einverstanden, also verabschiedet er sich.
Das ist die Variante Abstinenz. Eine andere Möglichkeit ist Aktivismus.
Seit Mitte August gibt es beispielsweise den Instagram-Account @tootiredproject, in der Profilbeschreibung steht: "A photo initiative that aims to help those struggling with depression by offering a place for collective creative expression. Submit #tootiredproject." Der Projekt-Account bietet eine Anlaufstelle für Fotografen, die mit Depressionen kämpfen. Bisher sind knapp 500 Fotos eingereicht worden.
Eine der Gründerinnen ist die Fotografin Tara Wray, ihr Fotobuch "Too Tired for Sunshine" ist gerade erschienen – der Titel sagt es schon, auch hier werden Depressionen verarbeitet. Was hilft noch, wenn nicht einmal Sonnenschein hilft, um durch den Tag zu kommen? Tara Wray hat in Vermont fotografiert, es scheint, als hätte sie sich auf die Suche nach den verschiedenen Gesichtern von Melancholie und Depression in der Natur, bei Mensch und Tier gemacht. Ein schwarzer Hund sitzt da, sein Kopf hängt zwischen den Schultern, er macht nicht den Eindruck, als würde er die Kraft aufbringen, sich in Bewegung zu setzen.
Das Projekt" Too Tired" gibt es, schreibt Tara Wray auf Instagram, weil sich seit Erscheinen ihres Buches so viele Menschen bei ihr gemeldet haben, die ihr erzählten, dass Fotografie auch ihnen geholfen habe, mit ihren Depressionen umzugehen. "We want to see your photos and get a dialogue going about mental health and art", schreibt sie weiter.
Auf dem Titel des aktuellen "Zeit Magazins" ist Supermodel Adwoa Aboah, fotografiert von Juergen Teller, porträtiert von Khuê Phạm. Aboah hat das Leben, das viele Mädchen und junge Frauen herbeisehnen, sie ist schön, sie wird bewundert, sie ist auf dem Titel der "Vogue". Das war nicht immer so. In der Schule fiel sie als einziges Mädchen mit dunkler Haut auf, sie fühlte sich hässlich, wollte die Schule wechseln, sie nahm Drogen, um zu funktionieren, bis sie nicht mehr funktionierte. Heute spricht sie offen, auf Instagram, in den Medien und bei Veranstaltungen, über ihre Drogensucht, Depressionen und Ängste. Khuê Phạm schreibt, dass Aboah stolz sei, ein mental health activist zu sein, eine Aktivistin für psychische Gesundheit, Freunde warnten sie, mahnten, sie habe doch keine Therapeutenausbildung.
Kürzlich hat die Autorin Ronja von Rönne in einem Blogbeitrag und in den Stories auf Instagram über ihre Depression gesprochen, die sie lähme, die sie zwinge, Schreibaufträge abzusagen, die sie so kraftlos mache, dass sie irgendwann nicht einmal mehr weinen könne. Es war ein leiser Hilferuf, der im Getöse der sozialen Medien leicht hätte untergehen können, aber sie wurde gehört. Kurz meldete sie sich, wieder auf Instagram, um sich zu bedanken, noch nie habe sie so viele Nachrichten bekommen.
Jetzt kann man sich weiter über das Monster beklagen, das Instagram da angeblich geschaffen hat. Und natürlich ist es für Medien angenehmer, über Influencer zu berichten, die Werbebudgets kannibalisieren. Man kann aber auch über aktivistische Anläufe berichten und den Menschen zuhören und folgen, die nicht so tun, als würde sie jeden Morgen frisch geschminkt aufwachen, den Tag im Fitnessstudio beginnen und mit einer Runde Yoga beenden. Das Monster Selbstinszenierungswahn auf Instagram ist so groß, wie wir es machen.