Yoko Ono liest immer zwei bis drei Bücher gleichzeitig. Sie denkt oft an einen Auftritt ihres Mannes John Lennon im Februar 1970, bei dem sie mit verbundenen Augen im Hintergrund einen weißen, formlosen Lappen strickte. Sie tanzt in ihrem Kopf. Das Leben ist ihr Tanz. All das erfährt man, wenn man der japanisch-amerikanischen Konzeptkünstlerin auf Twitter folgt. Fast täglich wirft sie ihren 4,5 Millionen Followerinnen und Followern kleine Weisheiten über die Kunst oder die Liebe hin, denkt in wenigen Zeichen über ihre Heimatstadt New York, ihre Lieblingsmusik und die Gemeinschaft der Menschen nach, bei der es keine Grenzen geben sollte.
Ihr Gebrauch der digitalen Plattform wirkt wie eine logische Fortführung ihrer früheren Arbeiten. Bereits 1964 veröffentlichte sie das Buch "Grapefruit", eine Sammlung von Instruktionen, Aphorismen und Zeichnungen. "Hör' der Erde beim Rotieren zu", heißt es darin beispielsweise unter dem Titel "Earth Piece". Für Yoko Ono brauchte es immer das Publikum, ohne dessen Fantasie ihre Werke gar nicht existieren könnten. "Ich glaube daran, dass die Leute eine angeborene künstlerische Kraft in sich haben", sagte die Künstlerin 2013 im Monopol-Interview. "Und die möchte ich ans Licht bringen."
An der Karriere von Yoko Ono, die am 18. Februar 90 Jahre alt wird, kann man einiges über die US-amerikanische Kunstgeschichte der Nachkriegszeit erzählen. Anfang der 1950er-Jahre kam die Tochter einer wohlhabenden japanischen Bankerfamilie nach New York und heiratete dort den John-Cage-Schüler Toshi Ichiyanagi, mit dem sie bis 1962 zusammenblieb. Sie wurde Teil der Fluxus-Bewegung und machte Konzeptkunst, bevor sich der Begriff überhaupt etabliert hatte. Sie legte Leinwände auf den Boden, auf denen "A Work To Be Stepped On" stand und die betreten werden durften. In ihrem "Cut Piece" ließ sie sich 1965 vom Publikum die Kleider vom Leib schneiden und machte noch vor Performance-Pionierinnen wie Marina Abramovic oder Ana Mendieta den weiblichen Körper zu einem Austragungsort von Machtspielen. Im "Film No.4 (Bottoms)" von 1966 filmte sie mit forschendem Interesse eine Reihe nackter Hintern berühmter Londoner Persönlichkeiten - ein Werk, das nicht nur einen leisen Humor mit Zen-Idealen paart, sondern auch eine unbeeindruckte Haltung gegenüber der Verehrung von Stars einnimmt. Auch die Installation "We Are All Water" von 2006 zielt darauf ab, dass wir letztlich alle aus denselben, wenig glamourösen Zutaten bestehen.
"Böse Hexe" und "gierige Witwe"
Insofern ist es fast ironisch, dass gerade die Künstlerin, die immer die Gleichheit der Menschen betont hat, in einen der größten Star-Hypes des 20. Jahrhunderts geriet. 1966 lernte sie den Beatles-Sänger John Lennon kennen, als der sich ihre Ausstellung in der Londoner Indica Gallery ansah. Die beiden wurden zu einem der symbiotischsten Paare der jüngeren Kulturgeschichte, das mal mehr und mal weniger erfolgreich zwischen schwer erträglichen avantgardistischen Urschrei-Orgien und populären Mitsing-Hymnen à la "Give Peace A Chance" und "Imagine" balancierte.
Schon vor ihrer Beziehung zu einem der bekanntesten Männer des Planeten hatte Yoko Ono die Misogynie des "Boys Club" in der New Yorker Kunstszene erfahren (1971 schaltete sie eine Anzeige für ihre fiktive Soloschau im MoMA, das damals kaum Künstlerinnen zeigte). Doch als Ehefrau von John Lennon schlug ihr der geballte Hass der globalen Beatles-Gemeinde entgegen. Die Künstlerin wurde als "Hexe" beschimpft, die mit ihrem dunklen Zauber die beste Band der Welt auseinanderbrachte (was alle Beteiligten immer bestritten haben). Auch nachdem John Lennon 1980 auf dem Bürgersteig vor seiner New Yorker Wohnung erschossen wurde, hörten die Anfeindungen nicht auf. Nun war sie die "gierige Witwe", die Profit aus dem Tod ihres Mannes schlagen wolle.
Die Geschmähte hat diese Attacken nach außen hin immer stoisch und großzügig ertragen. Doch die Erkenntnis, dass Yoko Ono auch ganz ohne Beatles-Fame eine der innovativsten Vertreterinnen der Konzeptkunst ist, setzte sich nur langsam in der internationalen Museumswelt durch. Inzwischen scheint ihre Rolle in der Geschichte der Nachkriegsavantgarde jedoch gesichert. Retrospektiven in der Frankfurter Schirn und dem MdbK Leipzig haben dazu beigetragen, und auch mit der Einzelschau im MoMA hat es 2015 schließlich geklappt.
Radikale Ästhetik gegen Kalendersprüche
Ono hat immer betont, dass ihre Kunst nicht im luftleeren Raum existiert. "Ich fand damals, dass viele Künstler ihr Werk wie eine Erweiterung ihres Egos behandelten. Sie wollten nicht, dass man es anfasst, es sollte ewig sein", sagte sie 2013 im Monopol-Interview. "Aber selbst, wenn man nicht möchte, dass die Leute das Werk berühren, es verändert sich sowieso. Und falls das Objekt gleich bleibt, dann ändert sich eben das soziale Klima, in dem es stattfindet."
Es ist interessant zu beobachten, dass Teile von Onos Werk heute eine neue Relevanz bekommen, während andere weniger gut gealtert sind. So hat beispielsweise das berühmte "Bed-In" für den Frieden von 1969 Maßstäbe für den heutigen Aktivismus gesetzt. Dass man mit der reinen Präsenz von Körpern Forderungen stellen und die öffentliche Ordnung durcheinanderbringen kann, ist eine Erkenntnis, die auch für die streikende Greta Thunberg und die "Klimakleber" der "Letzten Generation" zentral sein dürfte. Auch die Logik der Aufmerksamkeitsökonomie und den Einsatz von Ruhm für politische Ziele beherrschte das Ehepaar Ono-Lennon schon vor mehr als einem halben Jahrhundert ziemlich virtuos.
Andererseits wirken gern geteilte Schlagworte wie "Imagine Peace" und "War Is Over (If You Want It)" gerade seltsam aus der Zeit gefallen. Die Vorstellung, dass sich Frieden erdenken oder erwünschen ließe, klingt im Bezug auf den russischen Angriffskrieges auf die Ukraine naiv bis zynisch - vielleicht war sie es in Anbetracht globaler Machtgefälle immer schon. Natürlich darf und muss Kunst auch an politischen Realitäten vorbeifabulieren, gerade wird aber ein grundsätzlicher Widerspruch der Lennon-Ono-Slogans besonders deutlich: Einerseits können die pazifistischen Formeln in ihrer Offenheit verbindend wirken, andererseits sind sie aber eine Schatzkammer voller Gemeinplätze, aus der sich jeder bedienen kann: auch "Querdenker", die während der Pandemie "Imagine" sangen, und "Putin-Versteher", die Frieden fordern, ohne dessen Bedingungen zu reflektieren.
"Der Staffelstab liegt jetzt in eurer Hand"
In Yoko Onos Kunst schleicht sich ab und zu eine süßliche Kalenderspruchhaftigkeit ein, die die sperrigeren Töne ihres Werks überdeckt. Was aber auch daran liegen dürfte, dass diese Art von Wortkunst öfter gezeigt wird und fürs Publikum leichter verdaulich ist als die ästhetisch radikalen Arbeiten ihres Frühwerks. Während der Corona-Lockdowns wurden Museumsfassaden und öffentliche Plätze mit ihren Botschaften des Zusammenhalts und der Gemeinschaft bespielt. Auch hier klingt der Pop offenbar länger nach als die zwischenzeitlichen Noise-Eruptionen der Plastic Ono Band.
Wenn die Künstlerin am Samstag 90 wird, dürfte das für sie eine besondere Symbolik haben, denn die Neun, die in der Numerologie oft mit Weisheit und Vollkommenheit verbunden wird, war schon immer eine magische Zahl in ihrem Kosmos. Yoko Ono Lennon und John Ono Lennon fusionierten ihre Nachnamen so, dass sie es zusammen auf neun Os bringen würden, sowohl John als auch der Sohn des Paares, Sean Ono Lennon, haben am 9. Oktober Geburtstag. Auf dem "Weißen Album" der Beatles befindet sich das von Yoko maßgeblich mitgestaltete Stück "Revolution 9", eine sphärische Klangcollage, die den Flirt der Band mit dem Experimentellen auf die Spitze trieb.
Auch über 40 Jahre nach dem Attentat auf John Lennon wohnt Yoko Ono immer noch im gemeinsam bezogenen Apartment im Dakota Building nahe des New Yorker Central Parks. Umziehen käme nicht in Frage, sagte sie 2013 beim Hausbesuch von Monopol, schließlich habe ihr Mann hier alles angefasst. In den letzten Jahren lebte sie zunehmend zurückgezogen, bei einigen seltenen Auftritten war sie im Rollstuhl zu sehen. Trotzdem twitterte sie vor Kurzem, sie würde zur Entspannung immer noch gern 80 Blocks spazieren gehen - womöglich geht das ja im Geiste genauso gut wie auf der Straße.
In ihren Posts klingt Ono manchmal, als würde sie eine Übergabe an die nächste Künstlergeneration vorbereiten. Am 12. Februar schrieb sie: "Macht weiter gute Musik, meine Freunde. Der Staffelstab liegt jetzt in eurer Hand."