Ein Jahr Ukraine-Krieg

Die Nähe zwischen Alltäglichkeit und Katastrophe

Die Autorin und Künstlerin Yevgenia Belorusets hält den Kriegsalltag in Kiew in Texten und Fotos fest. Nun sind ihre so subtilen wie eindringlichen Bilder im Reichstag in Berlin zu sehen

Nichts als eine fensterlose Häuserwand zeigt die ukrainische Künstlerin und Schriftstellerin Yevgenia Belorusets auf einem großformatigen Foto, das gleichsam als Prolog für ihre Installation "Nebenan. Das Kiewer Tagebuch" dient. Handschriftlich hat sie gleich neben dem Bild kommentiert: "Ich fotografierte Wände, weil ich dachte, ich möchte sie dadurch für immer behalten, ihre noch nicht zerstörte Ganzheit".

Auch in der Folge verzichtet die Künstlerin in ihrem "War Diary" fast durchweg auf martialisch-kriegerische Gesten, vielmehr fängt sie in fast schon poetisch-empathischen und gleichzeitig auch traurig-tristen Bildern das Alltagsleben in Kiew ein: Immer wieder sind da menschenleere Straßen, dann Frauen, die mit ihrem Handy telefonieren, Nachbarn, die zusammen Gassigehen, ein mit Farbe übersprühter Wegplan und eine junge Frau, die sich fast schon tragikomisch eine blau-gelbe Schutzmaske gehäkelt hat. Eine Straße mit Panzersperren und eine zerstörte Häuserfassade zählen zu den wenigen Aufnahmen, die das Grauen des Krieges auf den ersten Blick erkennbar machen.

Der zweite Blick und das Bedenken der Bilder aber macht in dieser Installation mit subtiler Sensibilität die Nähe von Alltäglichkeit und Katastrophe im Kiew dieser Kriegstage deutlich. Denn die Straßen sind selbstverständlich leer, weil die Menschen Angst vor russischen Angriffen haben. Und die Passanten gehen gemeinsam Gassi, weil sie kurze Momente der Gemeinschaft suchen statt nur eingeschüchtert und allein zu Hause Schutz zu suchen.

"Sie machen ein Foto! Dann wird diese Stelle angegriffen"

Besagter Plan schließlich wurde von einer tapferen Frau unkenntlich gemacht, um Fremden die Orientierung in der Stadt zu erschweren. Dass es meist dieselben Straßen sind, die von Belorusets fotografiert werden, zeugt ebenfalls von existenzieller Angst. Denn auch die Künstlerin versuchte, ihr Risiko durch möglichst kurze Ausflüge ins gefährliche Draußen zu minimieren. In einem weiteren Kommentar zu ihren Fotos heißt es: "Sie machen ein Foto! Dann werden wir an dieser Stelle sterben. Dann wird diese Stelle angegriffen".

Neben den Bildern, die sich mit ihrem Fokus auf emotionale Realitäten deutlich von den Medienbildern aus dem Krieg unterscheiden, und den handgeschriebenen Kommentaren der Künstlerin komplettiert eine über Kopfhörer zu hörende Tonspur mit Auszügen aus Belorusets' kürzlich erschienenen Buch "Anfang des Krieges" die Installation. Auch in diesem seit dem 24. Februar geführten Tagebuch, das zeitweise auf "Spiegel Online" zu lesen war, vermeidet Belorusets die lauten Töne, konzentriert sich stattdessen auf präzise Beobachtungen, die den Schrecken vor allem im Alltäglichen verorten.

"Die Hoffnung fällt mir gerade schwer"

Ihre letzte große Einzelausstellung in Berlin hatte Belorusets übrigens 2015 mit Bildern aus den Kriegsgebieten der Ostukraine  – ja, seit 2014 gibt es Krieg in der Ukraine. Die Ausstellung fand in der Kapelle der Versöhnung auf der Gedenkstätte Berliner Mauer statt. Typisch für die Künstlerin ist, dass sie für die Präsentation ihrer Fotos oftmals Orte außerhalb des engeren Kunstbetriebes sucht, Orte, die meist durch Qualitäten wie Menschlichkeit und Empathie charakterisiert sind.

Jetzt mahnt sie die Grausamkeit des Krieges im Deutschen Bundestag an, dessen mehrheitliche Haltung zu diesem Konflikt - Stichworte: Eskalation und Waffenlieferungen - durchaus politisch umstritten ist. Es wäre der Künstlerin auch möglich gewesen, das "Kiewer Tagebuch" wieder in der Kapelle der Versöhnung auszustellen, aber diese Option schien ihr jetzt fragwürdig: "Die Hoffnung, die mit der Ausstellung in so einem Ort verbunden ist, fällt mir gerade schwer."