Wolfgang Tillmans ist ein Fotograf, der sich zusammen mit seinem Medium immer wieder neu erfunden hat. In seiner Ausstellung im Mumok Wien verbinden sich Nostalgisches und Neues zu einem unwiderstehlichen Bilderstrom
Einmal geblinzelt, und schon sind 30 Jahre Weltgeschichte vorübergezogen. Die Zeitspanne zwischen 1990 und heute kommt den meisten Leuten viel kürzer vor als die gleiche Distanz, die zwischen 1940 und 1970 liegt. Auf solche Wahrnehmungsverzerrungen weist Wolfgang Tillmans in seinen Arbeiten gerne hin. Er hat in den letzten Jahren die Evolution der Fotokamera aus nächster Nähe begleitet und sich dabei selber als Fotograf immer wieder neu erfunden.
Für seine Ausstellung im Wiener Museum Mumok – ein Vorgeschmack auf seine MoMA-Retrospektive nächstes Jahr – hat er einen tropischen Regensturm Tropfen für Tropfen im Moment des Sturzes eingefangen, wie es erst seit Kurzem technisch möglich ist ("Schall ist flüssig", 2021). Es sieht ohrenbetäubend laut aus. Mal huldigen Tillmans’ Fotografien dem hochauflösenden Bildschirm des neuesten Apple iPhones, mal sind sie eine Würdigung von Schwäche und Defizit: etwa wenn im Dunstkreis des Mondes die Bildpixel schön rauschen, weil sie sich nicht zwischen Grün und Lila entscheiden können.
Diesen Charme besitzen vor allem seine wiederentdeckten Motive aus den 1990er-Jahren. Das Behelfsmäßige daran dient auch als Störfeuer, es wird durch die Tillmans-typische Hängung der Bilder noch verstärkt: Manche wollten festgenagelt werden, andere verlangten nach Klebeband oder einem Rahmen. 13 Tage Arbeit hat ihn das Arrangement diesmal gekostet, am Ende fotografiert er seine eigenen Ausstellungsansichten aus jedem erdenklichen Winkel.
Banales und Historisches
Die Trennwände des Museums sind rausgeflogen, um möglichst viele Beziehungen zwischen den Porträtfotos herzustellen. Tilda Swinton und Lady Gaga posieren zwischen den nachdenklichen Gesichtern von nebenan und den teils namenlosen, teils gesichtslosen Akten. Alle kreisen sie in einem Orbit ohne Zentrum, Banales wird durch das historische Gewicht dieser Ausstellung in Bewegung gesetzt, seien es Stillleben, Himmelserscheinungen oder Gebäude. Im Kosmos der Architektur hat Tillmans ja auch schon interveniert, genauso wie in der Welt der Musik – im Mumok sind auch die Videos der 19 Songs seines Debütalbums "Moon in Earthlight" zu sehen und zu hören.
Dass die Vernissage wegen Corona im Livestream stattfinden musste, war im Grunde also nur eine weitere Ebene an Medienmix. Und der schwer behängte Kameramann, der Tillmans für den Stream des Museums filmte, wurde nach Drehschluss gleich als neuestes Fotomodell verpflichtet.