Vorschau auf die 65. Internationalen Filmfestspiele

Wohin zur Berlinale?

Wie schlägt man sich eine Schneise durch das Berlinale-Programm? Die große Auswahl kann zur Qual werden. Was will man eigentlich? Glamouröse Premieren erleben oder in die Abgründe des Arthouse-Kinos steigen? Aber oft entscheidet das Ticket-Roulette – wenn nämlich nur noch wenig Karten verfügbar sind. Schließlich gehört nicht jeder Fan zu den Frühaufstehern, die sich vor dem Morgengrauen mit schweren Lidern in die Vorverkaufsschlangen einreihen.
 
Wer sich besonders für Kunst interessiert, hat es leichter. Das Forum Expanded sucht die Schnittstellen zur bildenden Kunst und ist damit die experimentierfreudigste Sektion des Festivals. Der Vorteil: Im 10. Jubiläumsjahr finden das Filmprogramm, die Gruppenschau, die Performances und Diskussionspanels allesamt an einem Ort statt, in der Akademie der Künste im Hanseatenweg. In die Ausstellung kann man immer und die Events sind garantiert nicht so schnell ausgebucht wie die Terrence-Malick-Uraufführung im Berlinale-Palast.
 
"To the Sound of the Closing Door" lautet der Titel des diesjährigen Forum-Expanded-Programms, kuratiert von Stefanie Schulte Strathaus, Anselm Franke, Nanna Heidenreich, Bettina Steinbrügge und Ulrich Ziemons. Wenn eine Tür sich schließt, bedeutet dies das Ende aller Möglichkeiten? Die für das Forum Expanded ausgewählten Arbeiten stellen diese Endgültigkeit in Frage. Es geht um neue Projekte und Utopien, um metaphorische Türen, die geöffnet, durchschritten und geschlossen werden können. Neue Projekte können scheitern. Aber woran messen sich Erfolg und Misserfolg?
 
Die 17 Arbeiten der Gruppenausstellung entwerfen Parallelwelten und Gegenerzählungen. Wendelien van Oldenborghs Videoinstallation "Beauty and the Right to the Ugly" untersucht ein utopisches Bauprojekt in den Niederlanden: ein Gemeindezentrum, das ursprünglich ohne Innenwände geplant wurde – und ohne Türen. Ho Tzu Nyen spinnt in "The Nameless“"eine Geschichte voller Doppel- und Mehrdeutigkeiten um einen Dreifachagenten in Südostasien. Constanze Ruhms und Emilien Awadas "Invisible Producers. Kapitel 1: Panoramis / Paramount / Paranormal" spürt den Gespenstern und Geschichten nach, die den ehemaligen Standort eines französischen Filmstudios bevölkern.

Ebenso drehen sich die Filmprogramme um das Verhältnis von bereits geschriebener und noch ungeschriebener Geschichte. Isabelle Prim lässt in "Calamity Qui?"  die Westernheldin Calamity Jane wiederauferstehen. In Marwa Arsanios Film "Have You Ever Killed a Bear? Or Becoming Jamila" arbeitet sich eine junge Schauspielerin an der Figur einer algerischen Widerstandkämpferin ab. João Pedro Rodrigues und João Rui Guerra da Mata zeichnen in "Iec Long" die Geschichte einer Feuerwerksfabrik in Macao nach.

Weiter im Ausstellungs- und Filmprogramm vertreten sind Roy Dib, Kevin Jerome Everson, Pierre Huyghe, Ken Jacobs, Mireille Kassar, Elke Marhöfer, Jenny Perlin, Hans Scheugl, Michael Snow und Anton Vidokle. Ausführliche Künstlergespräche, Panels und Vorträge im Clubraum der Akademie der Künste vertiefen die vom Titel "Sound of the Closing Door" aufgeworfenen Fragen.
 
Die Berlinale ist – bildlich gesprochen – ein Wohnkomplex mit vielen Türen, und die sind meistens halboffen. Sprich: Wirklich abgrenzen kann man die Sektionen voneinander gar nicht. Für diese Unübersichtlichkeit wird das Festival oft kritisiert. Aber gewachsene Traditionen sind andererseits schwer zu durchbrechen. Das "Internationale Forum des Jungen Films" (der große Bruder des Forum Expanded) zum Beispiel mutierte von der linken Berlinale-Gegenveranstaltung zur Nebensektion. Nicht immer, aber statistisch häufiger als in der Panorama- oder der Wettbewerbsschiene, werden gewagte Themen angeschnitten, finden ungewöhnliche Erzählformen auf die Leinwand. Im Forum ist das Gros der Dokumentarfilme zu sehen. Für seinen Film "Counting" hat der US-Filmemacher Jem Cohen, eine Art DJ des Kinos, visuelle Eindrücke in fünfzehn Tracks gesammelt, es geht unter anderem um politische Plakate in New York und ein abstraktes Gemälde in St. Petersburg. Explizit um die Filmkunst drehen sich Tatiana Brandrups Hommage an das Moskauer Kinomuseum "Cinema: A Public Affair" und "Was heißt hier Ende? Der Filmkritiker Michael Althen" – ein Essayfilm von Dominik Graf.
 
Was noch? In den Wettbewerbsfilmen der 65. Filmfestspiele geht es nicht ausdrücklich um Kunst, aber das eine oder andere filmische Kunstwerk ist zu erwarten. Wieder hat der iranische Regisseur Jafar Panahi unter abenteuerlichen Umständen einen Film in den Wettbewerb "geschmuggelt". Panahi selbst sitzt am Steuer des "Taxi" (so der Titel) und fängt als Gesprächspartner von diversen Passanten die Stimmung in Teheran ein. Der Filmemacher, der eigentlich nicht arbeiten darf, kommentierte: "Ich muss unter allen Umständen weiter Filme machen, um der Kunst meinen Respekt zu zollen und mich lebendig zu fühlen."
 
Mutig war auch die Kunstaktion von Matthias Wermke und Mischa Leinkauf, die in der Nacht zum 22. Juli 2014 auf der Brooklyn Bridge zwei weiße amerikanische Flaggen hissten (hier die Künstler im Monopol-Interview über diese Aktion). Der 15-minütige Film "Symbolic Threats" lässt anhand von Presseberichterstattung eine breite Öffentlichkeit mit ihren auseinanderklaffenden Interpretationen zu Wort kommen. Der Kurzfilm läuft in der Reihe "Berlinale Shorts“. Für die zu Unrecht unterschätzte Sektion sind bestimmt noch Karten zu bekommen.

65. Internationale Filmfestspiele Berlin, bis 15. Februar