Choreograf Boris Charmatz im Interview

"Wir bringen Tanz an Orte, wo er nicht hingehört"

Boris Charmatz, Sie sind Kurator des Centre geographique in Rennes, das unter Ihrer Leitung zum Musée de la danse wurde, einem Projekt, das die Auffassung von zeitgenössischem Tanz revolutioniert. In Berlin werden Sie auf dem Festival „Foreign Affairs“ mehrere Arbeiten daraus zeigen. Können Sie kurz erklären, was das Musée de la danse ist?

Es ist vor allem eine Idee. Professioneller Tanz fand bisher an zwei Orten statt, dem Theatersaal und der Tanzschule. Wir bringen Tanz an Orte, wo er eigentlich nicht hingehört. Das eröffnet eine ganz neue Perspektive auf Tanz als Kunstform, was er ist und sein könnte. Wenn Tanz beginnt Grenzen zu überschreiten, wird er erst interessant und zu etwas ganz anderem, als die meisten darunter heute verstehen.

Aber auch die Perspektive auf das, was ein Museum ist, verschiebt sich.

Wir passen nicht gut ins Museum als existierende Institution. Deshalb stellten wir uns die Frage, wie ein Museum aussehen würde, wenn man es durch Tanz erschafft. Entstanden ist ein experimenteller Raum, der natürlich auch Traditionen und Erwartungshaltungen durchkreuzt. Unter „Ausstellung“ kann eine ganze Bandbreite an Kunst-Akten durchgeführt werden, im Musée de la danse kann es ein Haufen wildgewordener Tänzer sein, sogar einer, dem sich der Zuschauer anschließen kann.

Was unterscheidet Tanz auf einer klassischen Bühne von Tanz als Performance im Museum?

Tanz als Performance im Museum ist kunsthistorisch relativ neu und unklar. Im Unterschied zum Bühnentanz existiert noch keine gesellschaftlich elaborierte Praxis. Man befindet sich deshalb auf einer viel offeneren symbolischen Ebene. Als Künstler ist ein Tänzer einer Museums-Performance mit einem neuen gedanklichen Raum verbunden, der viel mehr ist als Schweiß und Körperlichkeit.

Warum sind Performance-Künstler im Moment so erfolgreich? Warum interessiert sich die Welt brennend dafür, was Marina Abramavoic in einem weißen Raum irgendwo in London macht?

Es geht bei dieser Kunst um nicht wiederholbare Erlebnisse. Bei einer Performance entsteht kein Objekt, nichts, was später irgendwo an der Wand hängt und einfach konsumiert werden kann. Ich glaube aber ebenso wichtig wie diese Einmaligkeit ist das Verbindende der Kunstform. Jede Performance erzeugt eine geteilte Erfahrung, die gesellschaftliche Vereinzelung aufhebt und beweist, dass soziale Mauern beweglich sind.

Ihr Stück „20 Dancers for the XX century“, das Sie letztes Jahr im MoMA in New York gezeigt haben, wird in einer dreistündigen Adaption auf dem sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park Berlin aufgeführt. Anders als im Museum bewegen sich die Künstler dabei nicht auf neutralem Boden.

Obwohl wir uns von Anfang an bewusst waren, dass das sowjetische Ehrenmal ein riskanter Ort ist, wollten wir unbedingt dort performen. Ins MoMA damals konnten wir einfach einfallen. Musée de la danse wurde zum Museum im Museum – fertig. Die paar Bildern an der Wand waren uns egal. In Berlin ist „20 Dancers for the XX Century“ ein komplett anderes Projekt. Das sowjetische Ehrenmal ist ein extrem aufgeladener Ort, der viel zu tun hat mit dem 20. Jahrhundert, mit Auslöschung und Gesten, die nicht vergessen werden dürfen. Es ist ein Ort, an den täglich Menschen kommen, um gefallenen Soldaten zu gedenken, dem zweiten Weltkrieg, aber auch dem Kalten Krieg und aktuellen Konflikten, wie dem in der Ukraine.

Und es ist ein Soldatenfriedhof.

Dass all das an diesem Ort zusammen kommt, ist das Wahnsinnige. Die größte Herausforderung war natürlich die Frage, wie wir uns auf einem Friedhof  angemessen bewegen können. Tanz wird oft einfach mit heiler Welt assoziiert, dabei hat Tanz viel mit Erinnerung und traumatischen Erfahrungen zu tun. Im danse macabre, dem Totentanz, zum Beispiel, hat auf Friedhöfen zu Tanzen eine lange Tradition. Was wir machen wird aber kein Totentanz sein. Der geschichtsträchtige Rahmen ist wesentlicher Bestandteil des Stücks, und die Tänzer werden sich mit ihrer ganzen Präsenz auf den Ort einlassen. Wir werden mit sensibel angepassten Gesten einen Schnittpunkt von fest und flüchtig, dem was geschrieben steht, und dem, was nur erlebt werden kann, schaffen, und so die Flüchtigkeit der Geschichte im Ephemeren des Tanzes zeigen.

Ihre Stücke beinhalten häufig herausfordernde Elemente, für Tänzer, aber auch für Zuschauer.

Fast alle meine Arbeiten sind irgendwie provokant. Vielleicht liegt es daran, dass ich als Kind schon lieber Fassbinder und Pasolini sah, als Walt Disney oder Kinderballett. Auch wenn ich die Filme nicht mochte, fand ich sie interessanter. Dazu kommt, dass sich manche Zuschauer eine ganze Performance lang nicht bewegen vor Schreck, während sich andere halb kaputt lachen. Wir als Tänzer und Choreographen treffen sehr präzise, oft radikale Entscheidungen, dennoch sind die Zuschauer mit etwas Unabgeschlossenen konfrontiert. Die letzte Entscheidung trifft der Zuschauer selbst.

Boris Charmatz „20 Dancers for the XX Century“ findet am 27. und 28. Juni um 17 Uhr am sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park statt. Der Eintritt ist frei. Im Rahmen des Performance-Festivals „Foreign Affairs“ zeigt Charmatz vier weitere Stücke aus dem Musée de la danse und wird an einem Symposium zur Interferenz von Zeitkünsten und Kunsträumen teilnehmen