Wim Wenders wird 75

In vielen Welten zu Hause

Der Regisseur Wim Wenders wird 75. Mit Werken wie "Paris, Texas" und "Der Himmel über Berlin" machte er das deutsche Kino weltweit bekannt, doch im Herzen ist er vor allem Fotograf 

Entweder-oder-Fragen sind unangenehm. Vor fünf Jahren fragte ich Wim Wenders, ob er sich für die Fotografie oder das Kino entscheiden würde, wenn er denn müsste. Ohne sich lange zu winden, nannte er das Fotografieren, "Das kann man die ganze Zeit machen. Filme immer nur in Abständen, denn es dauert furchtbar lange, bis ein Film vorbereitet, finanziert und fertig produziert ist."

"Ich könnte eher aufs Filmemachen verzichten": Man ist durchaus verblüfft über diesen Satz von einem, der in den 1980ern dank "Paris, Texas" oder "Der Himmel über Berlin" in den Pantheon des Weltkinos einzog. Und der in den 1990ern auch Erfolge mit Dokumentarfilmen feierte, in denen Musik eine zentrale Rolle spielte, "Lisbon Story" und "Buena Vista Social Club". Die Musik – der Rock ’n’ Roll seiner Jugendzeit – hatte ihn von seinem Wunsch abgebracht, Priester zu werden. Die katholische Prägung des am 14. August 1945 in Düsseldorf geborenen Regisseurs und Fotografen wird aber hin und wieder sichtbar – zuletzt in seinem Dokumentarfilm "Papst Franziskus – Ein Mann seines Wortes", der 2018 in Cannes Premiere feierte.

Ein Dialog mit den Orten

Sein Vater, Chefarzt in einer katholischen Klinik, schenkte dem Jungen eine Kompaktkamera und später seine Leica, Wenders junior fotografierte viel, aber der "Quantensprung" in Richtung künstlerischer Fotografie sei mit den Vorbereitungen für "Paris, Texas" gekommen: "Es gab nicht einmal ein Drehbuch, nur die Absicht im amerikanischen Westen einen Film zu machen", erzählte Wenders 2015, "Ich hatte mich entschieden, das in Farbe zu drehen, aber in Texas ist der Himmel so blau, die weißen Wölkchen so hingemalt, Primärfarben überall, das habe ich mich erst nicht zu zeigen getraut. Ich bin dann kreuz und und quer durch den amerikanischen Westen gereist, um mich mit diesem Look anzufreunden. Es war wohlgemerkt keine Motivsuche für den Film. Irgendwann bin ich nur noch auf Reisen gegangen, um zu fotografieren. Inzwischen ist die Fotografie die Hälfte meines Lebens geworden."

Es ist sozusagen die analoge Hälfte. Während der Filmemacher Wenders das Digitalkino begrüßt und sogar 3D-Filme dreht ("Pina", "Every Thing Will Be Fine",  "Die schönen Tage von Aranjuez"), rührt er als Fotograf keine Digitalkamera an. "Eigentlich fotografiere ich Menschen", sagt Wenders, "nur finde ich, dass die Orte besser ohne sie von ihnen erzählen. Sagen wir: Ich zeige die Spuren von Menschen. Und ich kann mich nur mit dem Negativ auf einen Dialog mit dem Ort einlassen. Ich will das Bild aber auf keinen Fall schon sehen, wenn ich es mache. Ein Bild, das sofort auf einem digitalen Screen auftaucht würde meine Arbeit unmöglich machen. Das sofortige Ergebnis unterbräche das Zwiegespräch mit dem Ort."

Liebesgeschichte mit einer SX-70

Wieder eine andere Welt: Die Sofortbildfotografie, bei ihm durchaus eine direkte Menschenfotografie, die 2018 in der Ausstellung bei C/O Berlin "Wim Wenders. Sofort Bilder" zum Vorschein kam.  Als "Der amerikanische Freund" (Wenders-Film von 1977) lag Dennis Hopper in einer damals bei C/O als Loop projizierten Filmszene auf einem Billardtisch und ließ aus einer SX-70-Kamera Sofortbilder auf sich herabregnen wie Blüten zur eigenen Beerdigung. Polaroid, das immer gleich "alt" aussah, Instant-Patina lieferte, verschärfte die der Fotografie ohnehin eigene Erfahrung von Zeit, Vergehen und Tod.

Wenders’ 240 Polaroid-Fotos der 1960er- bis 1980er-Jahre erzählten in der C/O-Schau die Liebesgeschichte zwischen ihm und einem besonderen Fotoapparat. Als Filmregisseur wurde er vom Polaroid-Unternehmen unterstützt, das ihm 1973 für den Dreh von "Alice in den Städten" ein SX-70-Modell zur Verfügung stellte. "1. Foto von Polaroid", schrieb der Regisseur in einem amerikanischen Diner unter das gelbstichige Sofortbild eines Toastbrots mit Ei und Schinken. Ein kleiner Haps für einen Menschen, ein großer Schritt in der Mediengeschichte. In dem kurzen Essayfilm "Instant Wonderland" zeigte Wenders anhand von Ausschnitten aus "Alice in den Städten", wie die Kurzzeitmaschine SX-70 zum Dialogpartner des von Rüdiger Vogler gespielten Helden wurde. "Da ist ja gar nichts drauf", sagt die kleine Alice (Yella Rottländer) einmal zu ihm. "Musst noch ein paar Minuten warten", lautet die Antwort. "Sofort" war nämlich nicht ganz korrekt, aber es gehörte zum Zauber von Polaroid, dass das Bild allmählich aus dem Nichts auftauchte.

Das Gros der Polaroids aus den 1970ern entstand auf USA-Trips des Regisseurs. Vom nebligen San Francisco in die unterbelichteten Straßenschluchten Manhattans: Es sind unscharf-fehlfarbige Ansichten, nicht ganz von dieser Welt. Wenders’ von Hollywood imprägnierter Blick lenkte die Kamera, die den Autor doch immer wieder auf die Schäbigkeiten dieses Amerika stößt: heruntergekommene Motels, Boardwalks, Wartesäle. Leben im Transit. Er fotografierte John-Ford-Filme vom Hotelfernseher ab, benutzte die SX-70 aber auch ausgiebig zu Recherchezwecken. Etwa bei der Location-Suche in San Francisco für seinen Schmerzensfilm "Hammett", den er, nach Produzenten-Veto 1981, noch einmal komplett im Studio nachdrehen musste.

Weltklasse Dokumentarfilme

Man könnte Wenders’ Zeit bis "Paris, Texas", der 1984 – und erst nach einem langwierigen Streit mit dem Filmverlag der Autoren (den Wenders 1971 selbst mitgegründet hatte) – als seine Galeerenjahre bezeichnen. Dann kam der anhaltende Erfolg im Erzählkino. Allerdings: Spielfilme wie "Bis ans Ende der Welt" (1991), "In weiter Ferne, so nah!" (1993) und "The Million Dollar Hotel" (2000) waren durchweg ambitioniert, aber künstlerisch zwiespältig. Doch mit "Every Thing Will Be Fine" (2015) mit James Franco und Charlotte Gainsbourg in den Hauptrollen – das erste und vielleicht einzige 3D-Melodram der Filmgeschichte – zeigte sich der subtile Erzähler Wenders in grandioser Form.

Seine Dokumentarfilme sind eine Klasse für sich. 2014 kam "Das Salz der Erde" in die Kinos, ein Film über Leben und Werk des brasilianischen sozialdokumentarischen Fotografen Sebastião Salgado, bei dem dessen Sohn Juliano Ribeiro Salgado die Ko-Regie innehatte. Er habe Salgado "in den anderthalb Jahren, in denen ich im Schneideraum saß, besser kennengelernt als viele andere Menschen", sagte Wenders 2015 im Interview, und er habe erfahren, "was das heißt, sich als Fotograf und in dieser Intensität auf Menschen und Orte einzulassen wie Salgado es tut. Es hat mir auch zu denken gegeben: dass man als Filmemacher doch oft irgendwo aufkreuzt und schnell wieder geht."

Man kann Wim Wenders nur wünschen, dass ihm viel Zeit bleibt fürs Reisen, Schauen, Fotografieren. Und zum 75. Geburtstag wünschen wir ihm alles Gute!