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Auf sozialen Medien wird jeder Nutzer zum Kurator seiner selbst. Die digitalen Galerien von TikTok, Instagram und Co. öffnen den Raum für eine ästhetische Auseinandersetzung mit dem eigenen Dasein. So verändert sich durch das Internet neben der Selbstwahrnehmung auch unser Verständnis von Ästhetik.
Die Journalistin Kaitlyn Tiffany erklärt, dass sich der Ästhetikbegriff bereits von seinen akademischen und philosophischen Wurzeln gelöst hat. Heute diene die englische Bezeichnung "aesthetic" insbesondere jungen Nutzern sozialer Medien als universelles Adjektiv – alles, was visuell anspricht, sei demnach "aesthetic". In einem erweiterten Kontext beschreibt der Begriff auch einen bestimmten "Vibe", zu deutsch eine "Atmosphäre".
Kategorisierung von Atmosphären
Die sogenannten "Internet Aesthetics" machen eine Kategorisierung von Vibes und Atmosphären möglich. So erhält jede im Netz geteilte Handlung, jedes Attribut und jeder gezeigte Raum ein eigenes Label. Aus einigen Schlagworten und visuellen Codes machen Content Creator so neue "Aesthetics". Darstellungen konservativer, traditionell ausgerichteter Ehefrauen, die etwa im langen Kleid ein deftiges Mittagessen kochen, sind als "Trad Wife" bekannt geworden. Inszenierungen eines idyllischen Landlebens, gezeigt durch Handarbeit im Freien, sind in der "Cottage Core"-Bewegung zusammengefasst.
Zum "Southern Gothic", einer Netzästhetik, die sich aus Motiven wie verlassenen Häusern, Kirchen und Maisfeldern zusammensetzt, zählt beispielsweise auch die schwermütige Musik der Sängerin Ethel Cain. Diese und hunderte weitere Aesthetics sind im "Aesthetics Wiki" gelistet, einer eigens für Internet Aesthetics geschaffenen Enzyklopädie.
Der Fokus der Aesthetics liegt in erster Linie auf der visuellen Darstellung und einem dadurch vermittelten Gefühl, mit dem sich die Nutzer auf sozialen Medien identifizieren können. Klassische Subkulturen gehen dagegen über eine rein äußere Identifikation hinaus. Sie bilden Gemeinschaften, die auf gemeinsamen Werten, Perspektiven und Fähigkeiten basieren.
Die Oberflächlichkeit der Internet Aesthetics zeigte sich deutlich bei der Aneignung von "brat" durch das Kampagnenteam von Kamala Harris. Der Begriff soll eine rebellische Party-Girl-Ästhetik beschreiben, benannt nach dem gleichnamigen Album der Musikerin Charli XCX. Ein Vibe, den sich Harris für den Wahlkampf gerne zulegte.
Hölle des Gleichen?
Durch das Zusammenspiel von nutzergenerierten Internet Aesthetics und der blitzschnellen Aneignung von Marken wie Harris befinden wir uns am Anfang und gleichzeitig unteren Ende einer neuen Kunst- und Kulturproduktion. Influencer verkündeten beinahe tägliche neue Aesthetic-Trends wie "Glazed Donut Skin"" (Haut, die wie ein Donut glänzt) oder "Hot Rodent Boyfriends" (mausgesichtige Männer).
Die stete Kreuzung von Atmosphären zu chaotischem Content lässt die ursprünglichen Signale verschwinden oder verwischt sie bis zu Unkenntlichkeit. Laut der Autorin und Künstlerin Emily Segal lösen sich die Inhalte letztlich in eine amorphe, vibey Masse auf, in der alles irgendwie wie alles andere sei. Man könne jeden x-beliebigen Vibe mit einem anderen Element vermischen und eine Marke damit verknüpfen.
Auf einigen Umwegen beschrieb der Philosoph Byung Chul-Han, der seine ganz eigene Ästhetik des Weltschmerzes pflegt, die sozialen Medien als "Hölle des Gleichen". Die Analyse lässt jedoch Content Creator und Atmosphärengestalter außer Acht, die einen besonderen Qualitätsanspruch pflegen und aus der Masse herausstechen.
Die Kunst des Remix
Einer, der seine Arbeit ernst nimmt, ist der Designer und Content Creator Fuseinatti, den ich in Tokyo zum Gespräch treffe. Fuseinatti erschafft aus kurzen Ausschnitten japanischer Animes, Kleidung des hauseigenen Modelabels und Aufnahmen von den Straßen Tokyos neue Aesthetics in Form weniger Sekunden langer Videoclips.
Als Remix-Künstler schöpft Fuseinatti das Potential der sozialen Medien voll aus. Er verwendet fast ausschließlich Material, das schon alleinstehend große popkulturelle Erfolge verbuchen konnte. Die Elemente seiner Videos, von Songs der japanischen City-Pop-Legenden wie Junko Yagami und Anri, bis Szenen aus den visuell atemberaubenden Animes "Vampire Hunter D" oder "Wicked City" sind durch gekonnte Schnitttechnik perfekt aufeinander abgestimmt.
Nach eigener Aussage arbeitet Fuseinatti teilweise wochenlang an seinen Edits und das mit größter Präzision, immer unter der Prämisse eines in Japan kultivierten Arbeitsethos, der als "Kaizen" bekannt ist. Fuseinatti interpretiert Kaizen für sich als die punktuelle Widmung und stete Verbesserung seiner Arbeit, um das bestmögliche Ergebnis zu erhalten.
Obwohl sich bereits Unternehmen wie Porsche in den Kommentarspalten seiner Videos tummeln und unbeholfene Komplimente machen, ist Fuseinatti bisher auf keine Werbedeals mit Marken eingegangen. Er steht den schnelllebigen Vibe-Trends und Internet Aesthetics kritisch gegenüber. Was rasch an die Oberfläche gespült wird, sterbe nach der Meinung des Designers genauso schnell wieder aus.
Interessanterweise ist Fuseinattis Blick auf die Vergangenheit gerichtet. Seine Inhalte greifen klassische, beinahe konservative, Motive auf. Als Video-Artefakte dienen Retro-Geräte wie der Sony-Walkman oder alte Röhrenfernseher.
Der unter die Videos gelegte City-Pop-Sound steht für die blühenden 1980er-Jahre in Japan, einer Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs, auf die in den 90ern die als "Lost Decade" bekannte Rezession folgte.
Auch wenn Fuseinattis selbst designte Kleidung vergleichsweise günstig ist, inszenieren viele seiner Videos einen gehobenen Lebensstil. In Kombination mit klassischen Outfits aus der Mitte des Jahrhunderts entsteht so mitunter eine japanische "Old Money"-Aesthetic, die Sehnsucht an eine andere Zeit weckt.
Verpflichtung gegenüber Qualität
Der Transfer der analogen Welt ins Digitale und die damit einhergehende Deutungshoheit über das eigene ästhetische Auftreten im Netz beinhaltet auch einen Fluchtmoment. Inzwischen erklären in deutschen Feuilletons Journalisten junge Menschen, die beispielsweise eine an englischen Internaten orientierten "Dark Academia"-Aesthetic (Schuluniformen, klassische Literatur, Notizbücher, neogotische Architektur) pflegen und feiern, heute schon zu Ewiggestrigen.
Fuseinatti empfindet das nicht als Vorwurf. Die Aesthetics, in die man je nach Passform des Moments schlüpfen könne, erlaube den Menschen in der komplexen Gegenwart zu träumen. Entgegen der zeitgenössischen Kulturkritik glaubt der Designer, dass eine steigende Zahl an Content Produzenten zu allgemein hochwertigerem Content führte.
Dennoch bestehe für die Creator, ganz im Sinne des Kaizen, auch eine Verpflichtung gegenüber Qualität. Ob diese Verpflichtung eine Rolle auch in der entfesselten Contentwelt der Marken spielt, wage ich zu bezweifeln. Nicht umsonst sagte Jean Baudrillard einst: "Kunst stirbt nicht, weil es keine Kunst mehr gibt, sondern weil es zu viel davon gibt."