Fotojournalismus 2.0

Wenn sich unser Bild vom Terrorismus verändert

Jerry Saltz hat die Bilder des AP-Fotografen Burhan Ozbilici vom Mordanschlag auf den russischen Türkei-Botschafter Andrej Karlow analysiert und wurde dafür heftig kritisiert. Und trotzdem muss über diese Bilder geschrieben werden.

Niemals, wirklich niemals die Kommentare lesen! Das ist wohl einer der klugen Ratschläge, den Menschen selten befolgen, die schreiben oder über die geschrieben wird. Da hilft nicht einmal die Erkenntnis, dass oft nur die Überschrift gelesen und dann sofort begeistert und beipflichtend geteilt oder wutentbrannt und besserwisserisch kommentiert wird. Überschriften zielen auf maximale Reichweite ab, Texte sollen schließlich schnell in den sozialen Medien geteilt und im besten Fall gelesen werden.

Viel Angriffsfläche bot Kommentatoren der Beitrag von Jerry Saltz über die Bilder, die der Associated Press-Fotograf Burhan Ozbilici vom Mordanschlag auf den russischen Türkei-Botschafter Andrej Karlow während der Eröffnung einer Kunstausstellung in Ankara machte. Ein schlanker Mann im schwarzen Anzug reckt eine Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger in die Höhe, in der anderen Hand hält er eine Waffe, er schreit, neben ihm liegt ein regloser Körper. Menschen kauern erstarrt in einer Ecke der Galerie am Boden, sie weinen, geben sich gegenseitig Halt, beobachten das Geschehen, sie sind verzweifelt. Diese Bilder anzusehen ist schmerzhaft, sich in die Menschen hineinzuversetzen ist unvorstellbar.

"Considering the Ankara Assassination Photos As History Painting" steht in der Überschrift. Auf Deutsch: "Die Fotos des Attentats von Ankara als Historiengemälde betrachtet". Das Publikationsdatum, direkt am Tag nach dem Mord, war da nur noch der Tropfen auf den heißen Stein. Im Kommentarbereich wurde gewütet. Dumm, bizarr, egoistisch, ein Zeugnis des schlechten Geschmacks des Autors sei der Text, der Journalismus habe damit einen neuen Tiefpunkt erreicht, Saltz mangele es an Empathie, seine emotionale Intelligenz müsse in Frage gestellt werden, unhöflich sei es, noch vor der Beerdigung des Opfers einen solchen Text zu verfassen, um Kunst handele es sich bei diesen Fotos nicht, es seien schlicht und ergreifend Bilder eines Mordes und Mord ist nicht sexy. Jerry Saltz reagierte verständnisvoll und verwies ein um das andere Mal auf seinen zweiten Satz, in dem er die Ermordung des Botschafters auf das Schärfste verurteilte. Sein Job sei es, Dinge zu bemerken und aufzuschreiben, er habe sich gefragt, warum diese Bilder anders aussehen würden.

Was Jerry Saltz eigentlich macht: Er erklärt, warum es sich um ikonische Fotos handelt. Wie vor ihm der Autor und Fotograf Colin Pantall in seinem Blog und wie nach ihm Robert Archambeau für das amerikanische Kunstblog "Hyperallergic". Am Tag nach dem Mordanschlag wurden mir die Fotos in meine Facebook-Timeline gespült – zwischen Schnappschüsse der Weihnachtsvorbereitungen von Freunden, Selfies, Updates zum Stand der Ermittlungen im Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz, Diskussionen um den Safety Check und Schimpfreden auf das Jahr 2016. Eine befreundete Modedesignerin teilte zwei der Fotos ohne Worte, eine befreundete Kuratorin kommentierte daraufhin "Inside the White Cube", was die Modedesignerin veranlasste zu antworten, die Bilder hätte sie gern hochaufgelöst.

Es ist unbestreitbar, dass die Fotos eine Faszination ausüben, sie sind gestochen scharf, und wenn man es nicht besser wüsste, würde man vermuten, sie seien gestellt. In einem Statement auf dem Blog der Nachrichtenagentur berichtet der Fotograf, was passierte, nachdem der bewaffnete Polizist Mevlut Mert Altintas die Waffe zog und auf den Botschafter schoss. Panik im Publikum, Schreie, die Menschen seien wie er in Deckung gegangen, Angst hätte er gehabt, verwirrt sei er gewesen, aber als Fotojournalist musste er auch seinen Job machen.

Die Fotos sind von Kritikern mit Installationen von Maurizio Cattelan verglichen worden, nur handelt es sich nicht um eine der spektakelfreudigen Inszenierungen des italienischen Künstlers. Das Leiden, der Horror, der Schock sind real. "Maurizio Cattelan 2.0" wurde irgendwo kommentiert, nur erlaubte sich in Ankara niemand einen Spaß. Caravaggio, Jeff Wall, Jacques-Louis Davids "Schwur der Horatier" und Delacroixs "Die Freiheit führt das Volk" wurden als Vergleiche herangezogen – wegen der Dramatik des Geschehens, der Handlung im Bild und der wie eingefrorenen Posen.

Matthias Planitzer, Kunstblogger, Arzt und jetzt Kunststudent an der Universität der Künste in Berlin, hat einen Bot programmiert, der populäre Artikel des Vortages sucht, auf das erste Bild darin eine so genannte Saliency Analysis anwendet und das Bild dann bei Twitter hochlädt. "Solche Algorithmen ermitteln die wesentlichen Bildteile, können also etwa die Kuh auf der Weide erkennen und isolieren oder den Mond vor dem Nachthimmel. Komplexe Bilder sind schwieriger und verwirren die Algorithmen häufig", erklärt Planitzer. Am 21. Dezember wurde ein Ausschnitt aus einem der Fotos von Ozbilici hochgeladen.

Vor einigen Wochen zensierte Facebook mehrmals eines der bedeutendsten Kriegsfotografien der Welt. Kinder fliehen vor den Napalm-Bomben in Vietnam, sie schreien, blicken sich um, halten sich an den Händen, ein Mädchen hat sich die Kleider vom Leib gerissen. Die ikonische Aufnahme von Nick Ut wurde 1972 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet und zum Pressefoto des Jahres gewählt. Nacktheit ist auf Facebook nicht erlaubt. "Während wir uns bewusst sind, dass es sich hier um ein ikonisches Foto handelt, so ist es dennoch schwierig, Unterscheidungen zu treffen, in welchen Fällen das Foto eines nackten Kindes zugelassen wird und in welchen Fällen nicht", zitierte die "F.A.Z." einen Sprecher von Facebook.

Die Aufnahme von Nick Ut aus dem Jahr 1972 hat unser Bild vom Krieg verändert, das Foto von Burhan Ozbilici wird vielleicht unser Bild vom Terrorismus verändern. In seinem berühmten Essay "Inside the White Cube" schrieb Brian O’Doherty, eine Galerie werde nach Gesetzen errichtet, die so streng seien wie diejenigen, die für eine mittelalterliche Kirche galten. "Die äußere Welt darf nicht hereingelassen werden, deswegen werden Fenster normalerweise verdunkelt. Die Wände sind weiß getüncht. Die Decke wird zur Lichtquelle." Im White Cube, der ideologisch gegen äußere Einflüsse abgeschottet wird, ist schon der Betrachter ein Eindringling, auf Ausstellungsfotos sind nach O’Doherty im Idealfall keine Menschen zu sehen.

Jetzt ist der Terror dort angekommen, wo wir ihn am wenigsten erwartet hätten und wo er uns am meisten an unsere Kultur erinnert. Deshalb faszinieren und erschüttern uns die Fotos von Ozbilici zugleich und deshalb muss über diese Bilder geschrieben werden. Das Jahr 2016 sah in Bildern tatsächlich aus, als hätte David Lynch Regie geführt, wie der Journalist Daniel Erk auf Twitter bemerkte.