Gallery.Delivery

Wenn der Fahrradkurier eine Ausstellung liefert

Foto: André Wunstorf
Foto: André Wunstorf
Der Fahrradkurier liefert die Kunst: Gallery.Delivery

Während der Berlin Art Week präsentiert die Züricher Galerie Roehrs & Boetsch mit Gallery.Delivery eine per Fahrradkurier lieferbare Gruppenausstellung. Monopol-Kolumnistin Anika Meier hat die Ausstellung bestellt

Normalerweise müsste er seinen Finger jetzt an einer Wand aufhängen, sagt der Kurier, und zieht einen kleinen Hammer aus einem Plastiktütchen. Eine Wand haben wir nicht, aber einen Tisch und zwei Bäume, sehr schmal. Der Tisch gehört uns nicht, die Bäume natürlich auch nicht. An einem Tisch lässt sich nur schwer ein Finger aufhängen, auf einem Tisch müsste der Finger liegend festgenagelt werden – wir überlegen kurz mit dem Kurier hin und her und entscheiden uns dann für den Baum. "Nehmen wir doch den hinter uns", sagen der Künstler Andy Kassier und ich gleichzeitig, springen auf und ziehen unsere Smartphones aus der Tasche. "Bereit?", fragt der Kurier. Wir sind sowas von bereit. Wenige Sekunden später hängt sein Finger am schmalen Baum direkt neben dem Cigköfte Laden am Kotti, wo der Burger nur 2,50 Euro und der Wrap 3,50 Euro kostet. Beides ist so Berlin. Das günstige Essen und Menschen, die irgendwas in der Öffentlichkeit machen, das befremdlich ist, in Berlin stört sich nur einfach niemand daran. Die Arbeit Finger an Baum bzw. Fingernagel heißt "Art Nail", stammt von Nadja Buttendorf und ist in einer Edition erhältlich. 

Nadja Buttendorf, "Art Nail"

Normalerweise hätten wir uns die Ausstellung nach Hause kommen lassen sollen, in eine Privatwohnung mit Wänden und Steckdosen, mit Chips und Dosenbier. Das sieht zumindest das Konzept von Kurator Sebastian Schmieg und der die Gruppenausstellung präsentierenden Züricher Galerie Roehrs & Boetsch vor. Die Galerie ist noch recht jung, ihr Programm beschäftigt sich damit, wie sich die Digitalisierung auf die Gesellschaft auswirkt, naturgemäß liegt der Schwerpunkt auf Künstlern, die mit Neuen Medien arbeiten, aber nicht nur. 15 Euro kostet es übrigens, sich die Ausstellung liefern zu lassen, so viel also wie eine mittelteure Essensbestellung beim Lieferdienst. 

Jetzt sitze ich mit ein paar Leuten an einem Tisch auf der Terrasse einer Falafelbude, feiere das Opening von Gallery.Delivery und würde gerne einen Falafelteller und Cola bestellen. Es kommt nur niemand, um die Bestellung aufzunehmen. Es kommt auch niemand, als ein Kurier mit einer Lieferbox an unseren Tisch eilt und anfängt auszupacken. Fast zwei Stunden lang packt er aus und dann wieder ein. Bevor er geht, händigt er mir feierlich ein Zertifikat aus, das mir bestätigt, ein Gallery.Delivery Host zu sein und Werke von u.a. Aram Bartholl, Olia Lialiana, Jonas Lund, !Mediengruppe Bitnik, Banz & Bowinkel und Andy Kassier gezeigt zu haben. Es fühlt sich ein bisschen an, als hielte man plötzlich das Abschlusszeugnis in Händen. Man hat etwas geleistet, es war aufregend, weil man nicht wusste, was einen erwartet – nur was macht man damit? 

Das Zertifikat liegt jedenfalls erst einmal im Regal, eine Arbeit aus der Ausstellung direkt daneben. "Shouldn‘t you be working?" steht auf dem 18 Zentimeter großen Sticker, schwarze Buchstaben auf weißem Grund. Es ist ein Werk von Silvio Lorusso, das der jeweilige Host des Openings geschenkt bekommt. Als der Kurier mir den Sticker über den Tisch reicht, lachen die Anwesenden. "Shouldn't you be working?", das denkt man sich in Zeiten von Facebook, Instagram & Co. am Tag 237 Mal. Deshalb gibt es ein Browser Plug-in, das genau diese Botschaft anzeigt, wenn zu viel im Internet prokrastiniert wurde. Lazy shaming geht mit diesem Sticker auch offline. 

Für jedes Opening sind zwei Stunden eingeplant, wir sind die zweiten Besteller der Gallery.Delivery, der Fahrradkurier ist also fast so frisch dabei wie wir. Wir fragen ihn, ob er in einer vorgegebenen Reihenfolge präsentieren müsse und ob er einen Text zu jeder Arbeit aufsagen wird. Er sagt nein und will wissen, wie wir es denn gerne hätten. Da wir unsere Vorlieben noch nicht kennen, es ist schließlich unser erstes Mal, antworten wir erwartungsfroh "Mach nur!" und schauen die Lieferbox an wie Kinder ein Überraschungsei. 

Die Assoziation zwischen der weißen Lieferbox und dem White Cube, dem weißen Ausstellungsraum, liegt auf der Hand. Nur: "Der White Cube löst sich auf und tritt samt seiner Logistik in den urbanen und privaten Lebensraum ein", sagt Kurator Sebastian Schmieg. 

Nachdem der Kurier also seinen Finger an einen Baum gehängt und sogleich wieder abgehängt hat – nicht bevor wir ausführlich in allen erdenklichen Formaten für unsere Social-Media-Kanäle fotografiert und gefilmt haben – geht alles ganz schnell. Er packt aus, wir gucken, er packt aus, wir gucken usw. usf. Die Kunst stapelt sich auf dem Tisch, wir schieben sie hin und her, ein Zeitungsstraßenverkäufer kommt vorbei und guckt kurz mit. Er ist irritiert, will wissen, ob das ein Flohmarkt sein soll und was es zu kaufen gibt. Bevor wir antworten können, hat er sich schon umgedreht. 

Zwei Freunde besuchen verspätet die Ausstellungseröffnung, und wie das so ist, die schon da sind zeigen den Neuankömmlingen wissend die Kunst und erzählen, was sie warum besonders gut finden und was eher zu vernachlässigen ist. Jetzt ist es tatsächlich, als würden Überraschungseierfiguren auf einem Tisch stehen, die Spannung ist vorbei, drei Viertel des Spaßes auch, bleibt noch das Spiel. Da einer der ausstellenden Künstler bei der Eröffnung anwesend ist, reichen wir ihnen seine Arbeit zuerst. Andy Kassier hat eine schmale schwarze Box beigesteuert, darin befinden sich drei Glückskekse aus durchsichtigem Plexiglas, in der Box liegen schwarze Handschuhe, die Juweliere bei ihrer Arbeit tragen. Wer einen Glückskeks in die Hand nimmt, um seine Botschaft zu lesen, poliert gleichzeitig den Keks wie einen Diamanten. "Realize regret is the worst", "Luck is just hard work and patience" und "A smile is your passport into the wallet of others" steht auf den drei Zetteln. Glückskekse, die den Weg zum Erfolg weisen. 

 

Andy Kassier, "Happiness Cookie"

Und jetzt wäre es ein ganz großer Spaß, wenn wir in einer Wohnung wären, in einer Wohnung mit sehr dünnen Wänden am besten und sehr vielen Nachbarn. "Play it loud so your neighbour‘s devices can hear", so lautet die Anweisung auf der durchsichtigen Schallplatte, die keine ist, aber trotzdem Musik in Form eines Downloadlinks für drei Songs anbietet. Aus den Boxen dröhnen Anweisungen für Siri und Alexa und den Google Assistant, sie sollen dies und das tun und natürlich löschen, löschen, löschen. "Alexiety" ist eine Arbeit von !Mediengruppe Bitnik & Low Jack, ein Hack für das Smart Home, also das der Nachbarn, nicht das eigene. 

Nach knapp zwei Stunden ist alles vorbei, die Ausstellung verlässt uns und nicht wir die Ausstellung. Wir schauen zu, wie jede Arbeit einzeln verpackt und verstaut wird, wie der Kurier seine Lieferbox auf den Rücken schnallt, auf sein Rad steigt und sich auf den Weg zum nächsten Kunden macht. Er liefert Openings in Serie wie Deliveroo und Foodora Pizza. Gallery.Delivery suggeriert die ständige Verfügbarkeit von Kunst und will damit ein Bedürfnis befriedigen wie Netflix und Amazon Prime. Der Dienst ist erschwinglich, die Kunst ist bezahlbar und leicht konsumierbar wie ein Meme im Internet. Aram Bartholl hat beispielsweise Passwörter, die LinkedIn geklaut wurden und mit Berlin zu tun haben, auf ein Mousepad gedruckt. „Forgot Your Password? (Berlin 123 Mousepad Edition)“ heißt die Arbeit, der Preis, folgerichtig: EUR 12,34. Peggy Pehl hat eine blaue Vase beigesteuert, den dicken Bauch ziert ein breit grinsender Smile. Das antike Griechenland trifft auf die Internetkultur mit ihren Emojis. 

 

Peggy Pehl, Ohne Titel

Die lieferbare Ausstellung könnte auch ein Post-Internet-Art-Museumsshop sein, ein Souvenirladen für Menschen, die sich eine Offline-Arbeit ihrer Lieblingsnetzkünstler kaufen wollen. Gallery.Delivery liefert mit einem Augenzwinkern eine Antwort auf die Frage, wie ein alternatives Galeriemodell für eine Generation aussehen könnte, die sich via Twitter über das Weltgeschehen informiert. Wie Netflix macht Gallery.Delivery ein bisschen süchtig, man könnte ewig sitzen und dem Kurier beim Auspacken, Aufbauen und Präsentieren zusehen, es könnte ja immer eine noch bessere Arbeit zum Vorschein kommen. Vielleicht bestelle ich mir die Ausstellung noch einmal nach Hause, dieses Mal mit Chips und Dosenbier, damit der Kurier seinen Finger ordnungsgemäß an einer Wand aufhängen kann.

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