Liebe Leserinnen und Leser, begeben sie sich mit mir auf eine imaginäre Reise. Wir sind auf einer großen Biennale – Venedig vielleicht. Wir haben die ersten sechs Stunden Ausstellungsrundgang hinter uns und bereits leichte Schwindelattacken. Stumpf vor uns hin starrend, reihen wir uns in die 20 Meter lange Schlange ein, um einen Kaffee zu erwerben, nein, um erst mal den "Scontrino"-Coupon für den Kaffee zu erwerben, um sich dann in die ebenso lange Kaffeeschlange zu stellen. Da kommt ein Bekannter herangeschlendert und fragt freundlich: "Na, schon was Interessantes gesehen?"
Was antworten Sie in dem Moment? "Ja, die dritte Installation von rechts im vierten Raum im zentralen Pavillon von dem thailändischen Kollektiv fand ich wirklich super"? Oder: "Nein, dieses Jahr ist alles furchtbar langweilig, ich habe nur auf meine Schuhe gestarrt"? Oder: "Nein, ich laufe hier nur meine neuen Sneaker ein"? Oder schauen Sie einfach entsetzt und sagen: "Gute Frage, nächste"? Letzteres wäre wahrscheinlich die Antwort, die ich in dieser Situation am liebsten geben würde, aber noch nie auszusprechen wagte.
Ich weiß nicht genau, warum die Frage mich immer so aus dem Konzept bringt. Wahrscheinlich eine déformation professionelle. Mein Gegenüber ist nur auf Smalltalk aus und wird meiner Antwort wahrscheinlich eh nicht zuhören. Ich aber denke, ich muss jetzt eine qualifizierte Kurzkritik irgendeiner Arbeit liefern, gerate ins Stottern und fühle mich ein bisschen wie ein angetrunkener Physiotherapeut, dem auf einer Party ein Bandscheibenvorfall vorgeführt wird.
Die Spionagewaffe der Kunstwelt
Andererseits: Komplett harmlos ist die Frage ja auch nicht. Auf einem großen Kunstereignis ist sie eine beliebte Spionagewaffe unter Kritiker und Kritikerinnen, die unauffällig herausfinden wollen, ob der andere vielleicht irgendwelche hochwichtigen Werke gefunden hat, an denen man selbst ahnungslos vorbeigelatscht ist. Man sichert sich ab und zapft dem andern vielleicht einen entscheidenden Gedanken ab. Wer während wichtiger Vorbesichtigungen zu viel redet, findet am nächsten Tag die eigenen Worte nicht selten in den Rezensionen der Kollegen und Kolleginnen wieder.
Unter Sammlerinnen und Sammlern ist die Frage sogar noch verfänglicher. Auf der Art Basel während der Vorbesichtigung gestellt, kann man sie auch übersetzen in: "Was kaufst du denn so?" Oder auch: "Was kann ich dir wegschnappen?"
Es ist aber auch eine schöne Frage. Denn sie setzt die Schwarmintelligenz in Gang, von der man immer auch selbst profitiert. Ich selbst habe sie unzählige Male gestellt, und oft gute Tipps bekommen. Und letztlich beruht ja unser ganzes journalistisches Geschäft darauf, diese Frage zu beantworten. Ja, wir sehen immer interessante Dinge. Und versuchen, sie so gut zu beschreiben, dass unsere Leser und Leserinnen sie auch sehen wollen. Wenn wir also alle wieder losziehen und Kunstwerke bingewatchen wie andere Serien, und Sie sehen mich mit leicht hypnotisiertem Blick in irgendeiner Ecke stehen, dann stupsen Sie mich ruhig an und fragen: "Schon irgendetwas Interessantes gesehen?" Ich überlege mir schon mal eine gute Antwort.