Ein Jahr nach dem Eklat

Was ist geblieben von der Documenta 14?

Vor einem Jahr ging die Doppel-Documenta nach Athen auch in Kassel zu Ende. Sie wurde von manchen geliebt und von vielen gehasst. Was ist geblieben?

Die Documenta 14 begegnet den Kasselern, wenn sie shoppingschwere Tüten aus dem Kaufhaus City Point schleppen, wenn sie vor Starbucks auf ihre Verabredung warten, oder in der Frühherbstsonne auf der Terrasse der L’Osteria eine Pizza verspeisen. Auf dem Königsplatz, der die frisch aufgehübschte Einkaufsmeile von der raueren Nordstadt trennt, streckt sich ein Jahr nach Ende der Weltkunstschau noch immer der Betonobelisk von Olu Oguibe in den Himmel. Noch sendet er seine viersprachige Botschaft mit Goldlettern in die Stadt: "Ich war ein Fremdling und ihr habt mich beherbergt." 

Diese Steinstele mit diesem Satz ist das deutlichste Zeichen, dass Kassel noch immer nicht ganz mit der Documenta 14 abgeschlossen hat. Nach monatelangen Diskussionen ist die Zukunft des Kunstwerks noch immer nicht abschließend geklärt. Das "Fremdlinge und Flüchtlinge Monument" hat die Politik und die Bevölkerung – genau wie die deutsche Flüchtlingspolitik – in engagierte Unterstützer und erbitterte Gegner gespalten. Die Beschlusslage der Stadtverordnetenversammlung ist verworren, wenn sich in den nächsten Wochen nicht noch ein Kompromiss zwischen Stadt und Künstler materialisiert, wird das letzte Außenkunstwerk der d14 wohl am 31. September abgebaut – auf die Gefahr hin, dass aus der Documenta-Stadt befremdliche Bilder um die Welt gehen.

Die AfD, die den Obelisken als "entstellte Kunst" bezeichnet hatte, freut sich auf den Abbau, außerdem drängen sich im Falle eines Abrisses unangenehme Assoziationen auf. 1939 wurde in Kassel schon einmal ein Brunnen in Obeliskform zerstört. Damals demolierten NS-Anhänger das vom jüdischen Unternehmer Sigmund Aschrott gestiftete Monument. Bis heute erinnert ein Mahnmal des Künstlers Horst Hoheisel an den fehlenden Brunnen. 

Doch die erhitzten Gemüter beim Thema Obelisk hängen auch damit zusammen, dass sich Kassel und die Documenta14 nicht unbedingt im Guten getrennt haben. Vor einem Jahr hatte die Ausstellung, die im April 2017 in Athen begonnen hatte, in Kassel mit einem Eklat geendet: Die geplante Abschiedsparty wurde abgesagt, das traditionelle Foto beim Abschließen des Fridericianums mit Oberbürgermeister und Riesenschlüssel fiel aus. Wenige Tage vorher war bekannt geworden, dass die Documenta ein finanzielles Defizit in Millionenhöhe verursacht hatte, eine Insolvenz wurde nur durch eine Bürgschaft der Stadt Kassel und des Landes Hessen abgewendet. Die d14, die schon mit ihrer politisch engagierten Kunst teils vernichtende Kritik geerntet hatte, wurde nun vielerorts als ganzheitliches Desaster abgestempelt. Das Mammut-Vorhaben, zwei Ausstellungen in Athen und Kassel zum Preis von einer zu stemmen, schien gescheitert. Adam Szymczyks Motto "Von Athen lernen" – diese zynische Spitze lag verlockend nahe – wurde als Lehrstunde im Schuldenmachen umgedeutet. 

Ein Jahr nach Ende der Doppel-Documenta ist es um die Hauptdarsteller recht still geworden. Der künstlerische Leiter Adam Szymczyk, inzwischen vom Vorwurf der Untreue entlastet, hat sich im vergangenen Jahr mit Ausnahme von vereinzelten Vorträgen unter dem Radar der Kunstöffentlichkeit bewegt. Auch von der geplanten Ausstellung mit Documenta-Künstlern in der Stiftung des Sammlers und d14-Sponsors Sindika Dokolo in Angola war zuletzt nichts mehr zu hören.

Ex -Geschäftsführerin Annette Kuhlenkampff, die ihren Posten nach der documenta-internen Finanzkrise räumen musste, arbeitet inzwischen als Geschäftsführerin des Deutschen Instituts für Stadtbaukunst in Frankfurt. Auch gegen sie war nach einer Anzeige der Kasseler AfD-Fraktion ermittelt worden, auch dieses Verfahren wegen des Verdachts auf Untreue wurde eingestellt. 

Während der Kunstzirkus auf seiner Messe-Biennale-Weltreise längst weiter gezogen ist, wird jedoch deutlich, dass einige Themen der Documenta 14 in der Ausstellungswelt weiterschwelen. Mit seinem Fokus auf außereuropäische Kunst und Kultur als Widerstandsinstrument von Minderheiten hat Adam Szymczyk kein gänzlich neues Thema gesetzt. Doch er hat die politisch engagierte Kunst auf die größtmögliche internationale Bühne gehoben und mit seinem Interesse für Identitätspolitik das wohl drängendste Kulturthema unserer Zeit getroffen. Wem verleihen wir eine Stimme? Wie lässt sich der brutal weiße und männliche Kunstkanon aufbrechen? Wie gehen wir mit den Monumenten im öffentlichen Raum um, die letztlich die Geschichte der Sieger/Unterdrücker erzählen? Diesen Fragen, die sich Kunstinstitutionen überall auf der Welt zunehmend stellen – und die letztlich auch mit der Debatte um vermeintliche Zensur durch den Political-Correctness-Furor zusammenhängen – hat sich die Documenta angenommen. Dabei hat sie sich in aggressiver Parteilichkeit auf die Seite derer geschlagen, die sie als die Schwachen identifiziert hat. Die ganze Ausstellung zielte auf Wahrnehmungsverschiebung ab. Es sollten Geschichten gehört werden, die in der Welt der Sieger keinen Platz haben. 

Wer die ästhetisch sperrige Ausstellung als Totalausfall abtut, verkennt diese Sensibilität für gesellschaftliches Brodeln. Man könnte die d14 eine "MeToo"-Ausstellung vor #MeToo nennen. Eine Verhandlung von Gewalt und Machtgefällen, bevor der Hashtag im Herbst 2017 eine Flut von Opfergeschichten zutage förderte und von einem feministischen Aufschrei zu einer Diskussion um Privilegien und deren Missbrauch im Allgemeinen geworden ist. Gleichzeitig war die Documenta ein Extrembeispiel für politisch engagierte Kunst, die sich dem klassischen Ansatz der Kritik entzieht. Ist Kunst automatisch gut, wenn sie einer übersehenen Gruppe eine Bühne gibt? Wie lässt sich Kunst von Aktivismus trennen? Und wie gute Kunst von guter Absicht? Auch diese Diskussion, die in der zeitgenössischen Kulturwelt immer relevanter wird, hat Szymczyks Documenta provoziert.

Dabei hat sie jedoch einen blinden Fleck bewiesen: Aktivistische Kunst kam ausschließlich von links, die Künstler wurden als gerechtigkeitssuchende Helden gegen Unterdrückermächte glorifiziert. Dass die Erzählung von Widerstand in den vergangenen Jahren zunehmend von Rechten genutzt wird, die sich als Kämpfer gegen einen "linksgrünversifften", staatstreuen Kulturbetrieb sehen, passte nicht ins Documenta-Weltbild – nun lässt sich dieses Phänomen jedoch direkt vor der Kasseler Haustür in der Diskussion um den Obelisken-Verbleib beobachten.  

Das Gastspiel in Athen, das der Documenta finanziell das Genick gebrochen hat, wird wohl vor allem wegen einer großen Idee und der ökonomischen Kapriolen im Gedächtnis bleiben. Als Adam Szymczyk sein Konzept der Doppelausstellung präsentierte, war die Griechenlandkrise auf ihrem Höhepunkt – die Inszenierung des armen europäischen Südens als Lehrmeister für den selbstzufriedenen Norden war eine echte Provokation. Zur Documenta selbst war das Thema schon zu bekannt und zermürbend, um das Publikum zu elektrisieren. Heute ist Griechenland – wenn es nicht gerade um Flüchtlingsrouten oder das Ende der  EU-Hilfspakete geht – weitgehend aus der deutschen Aufmerksamkeit gefallen. Die Suche nach einer einenden europäischen Erzählung läuft noch immer fieberhaft, doch die künstlerischen Positionen in Athen bearbeiteten zu viele individuelle Ungerechtigkeits-Baustellen, um wirklich im Gedächtnis zu bleiben.

Athen war für viele Kulturtouristen eine Entdeckung. Man staunte über den poetisch inszenierten Verfall einer Stadt und sprach über kulturelle Ausblutung durch die EU-verordnete Sparpolitik. Doch die Blicke sind weitergewandert. Zu viele Orte konkurrieren um Sichtbarkeit und die künstlerische Bearbeitung ihrer Gegenwart. Das Spotlicht bewegt sich schnell und hinterlässt Leere. Städte sind im biennalisierten Kunst-Kalender meist nicht viel mehr als Stichwortgeber.

Kassel dagegen bleibt Documenta-Zentrum und bereitet sich auf Nummer 15 vor. Die Findungskommission ist ernannt, im Herbst tritt die neue Geschäftsführerin Sabine Schormann offiziell ihr Amt an, und Anfang 2019 soll die neue künstlerische Leitung präsentiert werden. Nach dem unversöhnlichen Ende der Documenta 14, als manche schon die Abschaffung des Formats forderten, wird das Konzept für 2022 besonders genau beäugt werden. Auch der Ausgang des Obelisken-Streits wird das Bild von Kassel als Kunststadt prägen. Doch jede neue Weltkunstschau lässt die vorherige verblassen. Eine Documenta ist immer ein Neuanfang.