Gruppenausstellung auf Samos

Warum Saturn die Welt regiert

Eine wunderbare Ausstellung auf der griechischen Insel Samos untersucht die "Anatomie der politischen Melancholie"

Wer kennt das? Diese Attacke aus dem Nichts, diese plötzliche Malaise, die sich von hinten anschleicht wie ein Tier. Irgendetwas zwischen Trauer, Verstimmtheit und Resignation, ein Gefühl von Verlust und Bedrohung: "Summertime Sadness." Ein undurchdringliches Gefühl der Vereisung. Ein jäher Absturz in die Melancholie.

"Melancholie, das ist viel mehr als ein individuelles Gefühl", sagt Katerina Gregos. "Das ist das Feeling der Gegenwart, zwischen Trump und Brexit." Eine Vibration der Verunsicherung, die überall zu spüren ist, vor allem aber in Griechenland, wo Wirtschafts-, Finanz- und Flüchtlingskrise immer noch die Gesellschaft verdüstern. Und jetzt auch noch die Feuer dieses Sommers, mit fast hundert Toten. Viele davon gehen auf das Konto der Politik.

Wir sitzen im Hafen einer kleinen Stadt auf Samos. Von den blau angestrichenen, eng aneinandergereihten Restaurants aus blickt man auf die Fischerboote und die Touristen, aber auch auf ein weißes modernistisches Gebäude direkt am Strand: den Art Space Pythagoreion, ein Kunsttempel, der früher mal ein Hotel war. Hier gibt es bis Ende September die Gruppenausstellung "Anatomie der politischen Melancholie" zu sehen, offenbar das Thema der Stunde. Und eine Schau, die auch Nicht-Griechen in schweres Nachdenken stürzen kann.

Der Art Space Pythagorion

Ausgedacht und komponiert hat das die in Athen geborene, seit Jahren in Brüssel lebende Kuratorin Katerina Gregos. Ein messerscharfer Schnitt in die Gegenwart. Finanziert wird das alles von der in München ansässigen Schwarz Foundation, deren Gründerin selbst aus Griechenland stammt. Letztes Jahr gab es hier eine Schau zum "Summer of Love", der bunten prächtigen Hippiefantasie, die von San Francisco aus um die Welt ging, allerdings im Herbst 1967 nach ein paar Monaten schon am Ende war. Was damals blühte – es ist das genaue Gegenstück zur Melancholie.

"Was ist nur los mit der Politik?", fragt Katerina Gregos. "Gab es nicht mal eine Zeit, in der Politiker kandidierten, um das Leben anderer Menschen zu verbessern? Um eine bessere Zukunft zu installieren – und nicht vor allem, um Macht auszuüben, sich zu bereichern, ihre Kumpel zu fördern und maximalen Unfrieden in der Welt zu stiften?"

Ja, wo ist sie hin, die Verbindung von Politik und Moral, falls es sie jemals gab? Dieser Rest von Idealismus, wie wir ihn von Nelson Mandela oder Martin Luther King kennen? Geben heute nur noch die Raubtiergesetze von Investmentbankern den Ton an? Und wenn ja – ist dann die Melancholie nicht die einzig natürliche, unausweichliche Reaktion?  

Von Dürers Melancholia über "Die Leiden des jungen Werther" bis zu Lars von Trier zieht sie sich wie ein Mantra durch die Kunstgeschichte. Im 15. Jahrhundert galt sie sogar als Zeichen der schöpferischen Begabung und als Voraussetzung für kreatives Schaffen schlechthin. Heute überwiegen wieder die negativen Aspekte – eben auch in der Politik. Die Stimmung ist vergiftet, die Utopien zerbröselt. Saturn gibt den Ton an.

Das zeigen auch die Fotografien von Yorgos Prinos aus dem Machtzentrum um die Wall Street. Dort geht es zwar nicht gerade melancholisch zu, doch von hier aus werden Schockwellen in die ganze Welt geschickt. Sie lassen dann auch sehr weit weg entfernte Menschen und Regionen in Tristesse und Melancholie versinken.

Yorgos Prinos "Guide", 2016, aus der Serie "Prosaic", 2014

"Ich habe für meine Ausstellung das Thema Melancholie gewählt, weil ich glaube, dass sich viele Menschen heute melancholisch fühlen – auch in Bezug auf die politische Lage", sagt Katerina Gregos. "2016 war eine Wasserscheide, ein politisches Erdbeben, mit der Wahl Trump und dem Brexit, dem Aufstieg der rechten Parteien wie der AfD oder der so genannten 'Goldenen Morgenröte' in Griechenland."

Gregos ist sauer. "Das alte Parteiensystem ist erschöpft, unsere Regierung hat all ihre Versprechen verraten – und nirgendwo zeigt sich eine Alternative. Alles führt in die Sackgasse. Zugleich schrumpften die Wahlmöglichkeiten immer mehr zusammen Daraus folgen Apathie, Ärger, Unzufriedenheit, Malaise – und eben Melancholie."

In der Ausstellung zum Beispiel das Video "Dear Vladimir Putin" des in Rügen geborenen Künstlers Sven Johne. Ein alter Mann steht einsam im weißen Feinripp vor dem Spiegel und übt in schwerfälligem Russisch eine Rede ein, die er anlässlich einer Preisverleihung vor Wladimir Putin halten will. Früher, in besseren Zeiten, habe er als so genannter Tressnik, als Gastingenieur in der Sowjetunion gearbeitet. Jetzt fordert er Putin auf, er solle Europa von der Herrschaft der Konzerne und der Willkür der Wirtschaft befreien. 

Ist das Ironie, ist das ernst? Auf jeden Fall ein sehr melancholischer Diskurs.

Sven Johne "Дорого Влади̥ир Пути̦/Dear Vladimir Putin", 2017 Videostill 

Die Athener Künstlerin Katerina Apostolidou hat Briefe von Rosa Luxemburg ausgegraben, die diese zwischen 1916 und 1918 aus dem Gefängnis geschrieben hat. Die Künstlerin unterlegt sie mit schwarz-weiß-Bildern aus einem menschenleeren, öden Park in Athen, der durch alle Jahreszeiten kalt, wässrig und düster erscheint.

"Ich interessiere mich in meiner Kunst für geschlossene Orte wie Gefängnisse oder psychiatrische Anstalten", erzählt die Künstlerin. "Rosa Luxemburgs Briefe treffen das Gefühl der Gegenwart, ich liebe ihre Melancholie." Die deutsche Kommunistin fühle, so wie wir, dass sie in der Falle sitzt. "Die Zukunft ist ungewiss, wir wissen nicht, wo wir hinwollen und hinkönnen."

Griechenland sei nun mal eine große psychiatrische Anstalt oder ein Gefängnis. Und Luxemburgs Texte dienten als Spiegel der Gegenwart und depressive Stimmungsverstärker: "Jetzt sehen wir erst, wie eine ganze alte Welt versinkt", schreibt sie, "jeden Tag ein Stück, ein neuer Abrutsch ein neuer Riesensturz ... Und das Komischste ist, dass die meisten es gar nicht merken und glauben, noch auf festem Boden zu wandeln."

Katerina Apostolidou "If You Will Only Keep Your Eyes Open ..." 2017, Videostill

Das mit dem schwankenden Boden können die Griechen gut nachvollziehen. Sie fühlen sich ausverkauft, verraten. Ihr Land sei pleite, sagen sie, auch wenn man jetzt erstmals wieder von leisem Wirtschaftswachstum spricht, das aber mit gigantischen Opfern erkauft wurde. Was für ein Gefühl ist das, wenn ein Land seine Flughäfen an die Deutschen und seinen größten Hafen Piräus an die Chinesen verkaufen muss? Wenn es fremdbestimmt ist, als lebte man wieder unter 450 Jahren ottomanischer Zwangsherrschaft? "Es ist ja nicht das erste Mal, dass Griechenland pleite ist", sagt der Filmemacher Georges Salameh. "Schon bei der Gründung waren wir am Ende, konnten die Kredite der Engländer, Russen und Franzosen nicht zurückzahlen. Griechenland stand finanziell immer mit einem Bein am Abgrund."

Schulden als Erbsünde? Junge Leute verlassen das Land in Scharen, meist nach Nordeuropa. Rund 500000 der am besten ausgebildeten Griechen sind schon gegangen. Sie werden früher oder später fehlen. Melancholie pur.

Zu der verlorenen Generation zählt auch der Künstler und Fotograf Dimitris Tsoumplekas. Er gehört zur Künstlergruppe Depression Era. Seine Fotos sind unscharf, ambivalent, mehrdeutig, sie tragen die Spuren massiver Verunsicherung und Verwahrlosung. Ein schwarzes Schaf, das ausgebüchst ist. Eine halb abgerissene Dachkammer. Die Ruine einer dichtgemachten Tankstelle. Stühle irgendwo draußen im Nebel, Orte des Verbrechens in der Vorstadt. Bizarre Essensreste auf abgerockten Tafeln, ein Kind, das vor einem Ölgemälde im Wohnzimmer hilflos auf dem Rücken liegt.

"Die Leute sind verärgert, traurig, enttäuscht“, sagt Tsoumplekas, der Anfang des Jahrtausends auf Einladung des Literarischen Colloquiums in Berlin gelebt hat, bevor ihn das Heimweh nach Athen zurücktrieb – mitten in die Wirtschaftskrise. "Am Anfang war die Angst. Sie hat unser Leben verändert. Plötzlich gab es da diesen Kontrollverlust auf allen Ebenen, der Regierung, das Vertrauen in unsere Politiker ging total verloren. Nach der Angst kommt der Ärger, dann die Enttäuschung – und schließlich die Melancholie. Man fühlt sich hilflos. Man lebt nicht mehr im eigenen Jetzt, sondern im Jetzt eines anderen."

Dimitris Tsoumplekas "TEXAS − The Problem with Our Current Situation", 2010-13 (detail)

Und dann die Feuer. Nichts prägt die melancholische Stimmung in Griechenland so wie die Brände. Sie haben in der Nähe von Athen 93 Todesopfer gefordert, Tausende Häuser zerstört. Doch das sei keine Naturkatastrophe gewesen. Sie sei menschengemacht, der Regierung anzulasten.

Katerina Gregos ist genervt. "Die Sache mit den Feuern ist unheimlich, gespenstisch. Der Titel unserer Ausstellung – Anatomie der politischen Melancholie – ist da ganz prophetisch geworden."

Das Feuer sei ein gutes Beispiel dafür, wie der griechische Staat nicht funktioniert. Wegen der Nachlässigkeit der Bürger und der Korruption der Regierung. In den betroffenen Gebieten wurden viele illegale Häuser gebaut. Die Mauern dieser Häuser aber wurden zur Falle. Es gab keinen Ausweg mehr. Die Menschen verkohlten. "All das ist politische Melancholie: Depression, Ärger. Und das Gefühl der Machtlosigkeit."

Der Ärger ist immer noch da, er glüht nach. Warum kamen die Rettungsschiffe so spät von der Seeseite, warum mussten Menschen vier Stunden lang schwimmen, was manche von ihnen nicht überlebten? Warum fand die Feuerwehr nicht den rechten Weg? Warum entschieden Korruption und Nepotismus über das Überleben von Menschen?

Noch nie sei die Stimmung in Griechenland so schlecht wie in diesem Sommer gewesen. Ja, die Natur sei großartig, die Hotels ausgebucht, die Strände zum ersten Mal seit vielen Jahren belebt, es sieht aus wie eine heile Welt. "Aber noch nie war es bei uns so melancholisch", sagt Katerina Gregos.

Der Zorn, der  Aufschrei, den es geben müsste - er findet nicht wirklich statt, er implodiert. "Wir müssten nach diesen Feuern zornig sein, stocksauer", sagt Dimitris Tsoumplekas. "Aber wir sind es nicht wegen unserer Melancholie. Wir fühlen uns taub."

Die Melancholie – sie hängt in Griechenland nicht nur mit den Körpersäften zusammen, wie Hippokrates meinte. Sie steckt auch im System, in der Gesellschaft. Sie ist der Saft, der einen Staat erodieren lässt.