Es gibt, das ist leider eine Tatsache, unter Menschen katholischer Konfession keine nennenswerten Künstlerinnen und Künstler. Weltanschauung und Wertevorstellungen, die durch den katholischen Glauben geprägt sind, bilden ein zu enges Korsett, das es unmöglich macht, etwas zu erschaffen, das als ernstzunehmende Kunst zu bezeichnen sei.
Ähnlich verhält es sich mit Menschen, die tagsüber geboren sind. Alle wirklichen Kunstschaffenden sind Nachtgeborene. Es ist die Stille und Konzentration der Stunden nach 24 Uhr, die Einsamkeit und das Auf-Sich-Geworfen-Sein der dunklen Tageszeit, die sich in den Wesen dieser Menschen festsetzen und sie zu großen Werken befähigen. Natürlich gibt es Ausnahmen, doch diese - Sie ahnen es – bestätigen auch hier nur die Regel.
"Ist die plemplem?", fragen Sie sich jetzt wahrscheinlich. Zurecht. Obwohl: Es wären nicht die ersten absurden Narrative dieser Art, die als Tatsache angenommen wurden. Die (Kunst-)Geschichte ist voll von solchen irren Erzählungen. Wobei wir auch schon beim Thema wären, denn in diesem Text geht es um weibliche Positionen aus der ehemaligen DDR - und um die Frage, welche Rolle sie im Kontext unserer Gegenwart einnehmen oder einnehmen können.
Nichts außer dem staatstreuen sozialistischen Realismus?
Nach der Wende, die sich in diesem wilden, dystopisch angehauchten Jahr 2024 ja zum 35. Mal jährte, kamen Protagonisten der alten Bundesländer auf die Idee, die Mär zu verbreiten, in der DDR habe es außer dem staatstreuen sozialistischen Realismus nichts gegeben. In der DDR entstandene Werke der bildenden Kunst erhielten pauschal diesen Stempel, ganz gleich, ob es sich um tatsächliche Staatskunst handelte oder um dissidentische, unangepasste Ansätze. Freie Kunst, das konnte in diesem Regime nicht entstehen und gab es folglich nicht, so die Behauptung im Gewand der Tatsache. Freilich war die Wiedervereinigung nicht die Geburtsstunde dieser Erzählung.
Es sei beispielsweise an die Documenta 6 (1977) erinnert, bei der die "Übersiedler" Gerhard Richter und Georg Baselitz sowie der Westgeborene Markus Lüpertz einen Tag vor der Eröffnung ihre Bilder abhängten. Die räumliche Nähe zu den "offiziellen" DDR-Malern Willi Sitte, Bernhard Heisig, Wolfgang Mattheuer und Werner Tübke passte ihnen nicht.
In der Tat vom Staat hofiert, waren Heisig, Mattheuer und Tübke drei der Gründer der sogenannten Leipziger Schule, deren Vertreterinnen und Vertreter subtile Systemkritik übten und der inneren Zerrissenheit der Kunstschaffenden hinsichtlich ihrer Aufgaben in der Gesellschaft Raum schufen. Aber so differenziert wollte man da anscheinend nicht hinsehen. Natürlich hätte der künstlerische Leiter der D6, Manfred Schneckenburger, durchaus auch auf andere, aus westlicher Sicht weniger kontroverse Positionen zurückgreifen können. Wer einen genauen Blick auf Thema werfen möchte, dem sei die jüngst veröffentlichte Publikation "Exhibition Politics. Die documenta und die DDR" von Alexia Pooth zu empfehlen. Auch später warf Baselitz seinen Koleginnen und Kollegen aus dem Osten vor, die Kunst verraten zu haben und somit des Titels "Künstlerin" oder "Künstler" nicht würdig zu sein.
Kunst-Wüste DDR?
Der Erzählung von der Kunst-Wüste DDR wurde lange Glauben geschenkt: Es ist noch keine zehn Jahre her, dass im kollektiven Bewusstsein ein Umdenken eingesetzt hat. Zwischenzeitlich gab es dazu immer wieder Ausstellungen, die sich der Kunst aus der DDR widmeten, beispielsweise im Gropius Bau in Berlin (2016), im Museum Barberini in Potsdam (2017/18), im Museum der Bildenden Künste Leipzig (2019) und im Kunstpalast Düsseldorf (2019/20), im Stadtmuseum Berlin sowie in der West-Berliner Stiftung Kunstforum Berliner Volksbank (beide 2022). Für leztztere Sammlung wurden übrigens bereits 1987 Kunstwerke aus der DDR angekauft, hier hätten wir also eine der wenigen Ausnahmen.
Die meisten dieser Ausstellungen konzentrierten sich auf männliche Positionen, womit wir bei einer zweiten, weitaus älteren Erzählung sind: Große Künstler sind in der Regel Männer. Dass Frauen im Kunstbetrieb unterrepräsentiert sind und darüber hinaus schlechter bezahlt werden, ist – so geht die Erzählung weiter – auf Gründe zurückzuführen, die in der Person und im Werk der Künstlerin liegen. Es handelt sich in dieser Argumentation also nicht um ein strukturelles, gesellschaftliches und politisches Phänomen.
Bereits 2009, acht Jahre bevor die verstärkte Auseinandersetzung mit der ostdeutschen Kunst einsetzte, wurde im Künstlerhaus Bethanien die Ausstellung "Und jetzt" mit Arbeiten von 12 Künstlerinnen aus der DDR gezeigt. Die damalige Kuratorin Angelika Richter, geboren 1971 in Dresden, ist seit 2021 Rektorin der Kunsthochschule Weißensee und somit erste Frau mit Ost-Biografie, die die Leitung einer solchen deutschen Akademie übernimmt. Ihre Kollegin Beatrice E. Stammer verantwortete gemeinsam mit sieben Kolleginnen 1991 die Ausstellung "Außerhalb von Mittendrin", die sowohl west- als auch ostdeutsche Künstlerinnen zeigte.
Verstärktes Interesse seit 2020
Ihre gemeinsam zusammengesetellte Berliner Schau setzte sich zum Ziel, zur Wahrnehmung von Künstlerinnen beizutragen, die man sich heute nicht mehr aus dem Kanon wegdenken kann und mag: Tina Bara, Annemirl Bauer, Else Gabriel, Angela Hampel, Verena Kyselka, Christine Schlegel, Cornelia Schleime, Gundula Schulze Eldowy, Gabriele Stötzer, Erika Stürmer-Alex, Ramona Welsh, Karla Woisnitza.
Allerdings sollte es noch einige Zeit dauern, bis eine breitere Auseinandersetzung mit diesen und weiteren Positionen einsetzte: Erst seit Beginn der 2020er-Jahre finden verstärkt Ausstellungen statt, die sich explizit dem Schaffen von Künstlerinnen aus der DDR widmen.
Wichtig hierfür ist das Jahr 2022: Im Kunstraum Kreuzberg ist die von Andrea Pichl zusammengestellte Ausstellung "Worin unsere Stärke besteht" zu sehen, die mit Arbeiten von 50 Künstlerinnen aus drei Generationen auf das Missverhältnis in der Repräsentation reagierte. Die Ausstellung "Melancholie und Widerständigkeit" im Albertinum (dem Ort des Dresdner Bilderstreits, aber das führt jetzt alles zu weit …) widmete sich dem Werk von Tina Bara, Christine Schlegel und Angela Hampel.
Anerkennung vom Ministerpräsidenten
Im Dieselkraftwerk des Brandenburgischen Landesmuseums für moderne Kunst sind in der Ausstellung "Herzwärts wild. Umbrüche 1982-97. Künstlerinnen aus der DDR" in jenem Jahr außerdem 18 Positionen präsentiert, darunter Tina Bara, Annemirl Bauer, Ellen Fuhr, Angela Hampel, Sabine Herrmann und Erika Stürmer-Alex.
In der Ausstellung "Aufbrüche. Abbrüche. Umbrüche. Kunst in Ost-Berlin 1985-1995" in der Stiftung Kunstforum Berliner Volksbank geht ein Ausstellungskapitel darauf ein, wie Ost-Berliner Künstlerinnen die staatliche Politik hinterfragten und Kritik an überkommenen Rollenbildern übten. Und der Film "Rebellinnen – Fotografie. Underground. DDR" berichtet vom Sturm und Drang der Künstlerinnen Tina Bara, Cornelia Schleime und Gabriele Stötzer.
Und auch 2024 lässt sich – neben einem Fokus auf die Beziehungen der Deutschen Demokratischen Republik mit ihren befreundeten sozialistischen Staaten – ein verstärktes Interesse an weiblichen Positionen aus den ehemaligen DDR beobachten. Dabei geht es keinesfalls darum, die jeweiligen Künstlerinnen nur als historische Position zu betrachten. Das zeigte zum Beispiel die Ausstellung "Cornelia Schleime. Ohne Lippen sind die Zähne kalt" in der Berliner Galerie Judin. Für ihr Lebenswerk erhielt die Performerin, Malerin, Autorin und Filmemacherin, geboren 1953 in Ost-Berlin, in diesem Sommer den Ehrenpreis des brandenburgischen Ministerpräsidenten. Allerdings war sie neben fünf männlichen Kollegen die einzige Frau, die im Rahmen des 21. Brandenburgischen Kunstpreises geehrt wurde.
Ideologische Verblendung gepaart mit arroganter Ignoranz
In ihrer Einzelausstellung in Berlin beschäftigt sich Andrea Pichl, geboren1964 in Haldensleben/Sachsen-Anhalt, gerade mit dem ökonomischen Transfer zwischen Ost- und Westdeutschland und mit der Transformation nach 1989. Pichl ist in diesem Herbst, also ganze 35 Jahre nach dem Mauerfall, die erste Frau aus der DDR, die im Hamburger Bahnhof – Nationalgalerie der Gegenwart ausstellt (den vollen Institutions-Namen zu nennen, macht in diesem Kontext deutlich, dass in dem Haus eigentlich die Gegenwart repräsentiert werden soll).
Im September erhielt die gebürtige Thüringerin Gabriele Stötzer den Pauli-Preis 2024, ihre Arbeiten waren zeitgleich in der Kunsthalle Bremen und im Kunsthaus Erfurt zu sehen. Außerdem ist sie, neben weiteren Künstlerinnen aus der DDR, Teil des Kinofilms "Die Unbeugsamen 2. Guten Morgen, ihr Schönen", der sich den "beeindruckenden Lebensleistungen der ostdeutschen Frauen und ihrem Kampf um Chancengleichheit" widmet. Im Herbst erschien passend dazu die von Melanie Franke herausgegebene Publikation "Selbsterzählungen und Umbruchspuren im Œuvre von Künstler:innen aus der DDR".
Die Liste endet hier noch lange nicht, aber an dieser Stelle sei einmal die offenkundige Frage gestellt: Warum jetzt? Woher kommt es, dass das Interesse an weiblichen Positionen aus der ehemaligen DDR ausgerechnet jetzt aufflammt? Die einfachste Antwort wäre: Weil es starke Positionen sind. Man möchte die Argumentation einfach an diesem Punkt abschließen. Diese Kunst war schon immer stark, nur hat man sie im eigenen Land als schädlichen Feind bekämpft und im Nachbarland eiskalt ignoriert. So einfach ist das? Ideologische Verblendung auf der einen Seite, arrogante Ignoranz auf der anderen.
Deutsch-deutsche Gesellschaftskrise
Woran liegt es aber, dass dieses Wegsehen, das so viele Jahrzehnte überdauerte, in den vergangenen Jahren aufbricht? Vielleicht hat es mit der derzeitigen Verfassung unserer Gesellschaft zu tun. Heute muss man sich eingestehen, dass bei der Wiedervereinigung nicht alles gut lief und dass das, was nicht gut lief, in die Gegenwart wirkt. Dass es nicht funktioniert hat, sich grob gesagt einer einseitigen Erzählung hinzugeben und die andere Seite zu ignorieren.
Jetzt haben wir den politischen Salat, der natürlich nicht nur aus den Verwerfungen nach 1989 resultiert, aber eben auch. Wenn ein Paar gemeinsam eine Therapie macht, um wieder zusammenzufinden, wird dieser Versuch scheitern, wenn nur eine Seite angehört wird.
Die deutsch-deutsche Gesellschaft befindet sich derzeit in einer Krise: Die AfD hat bei der letzten Landtagswahl in Thüringen rund 33 Prozent erreicht, ist auch in anderen Bundesländern stark und hätte laut der Forsa-Umfrage vom 10. Dezember 18 Prozent der Stimmen erreicht, wenn am 15. Dezember Bundestagswahl gewesen wäre. Die Armut nimmt zu, die gern bemühte Schere zwischen den sozialen Milieus geht immer weiter auf. Bildung und Kultur müssen erschreckend hohe Etat-Kürzungen einstecken, wodurch sich bestehende Probleme in den kommenden Jahren verschärfen werden.
Trost und ein Appell an den kritischen Verstand
In dieser Krise muss die Gesellschaft zu einer neuen Erzählung von sich selbst finden. Ein gewohnter Konsens ist weggebrochen: Unterschiedlicher Meinung sein zu können, sich dabei jedoch auf demokratische Grundwerte zu einigen. Was lange als selbstverständlich galt, muss wieder erkämpft werden und droht von rechts unterwandert zu werden. Wenn der vernünftige Teil der Gesellschaft zu ruhig bleibt, breitet sich die aus rechter Ecke kommenden Narrative aus. Es müssen Gegenerzählungen her.
Um diese in Zukunft stark machen zu können, muss man sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen, und zwar auf gesamtdeutscher Ebene. Das bedeutet, dass auch die facettenreiche Realität der DDR sowie die Folgen der Wiedervereinigung eingehend betrachtet werden müssen. Hierbei spielt Kunst eine wichtige Rolle: "Insbesondere Kunstwerke, die sich durch ihre Subjektivität sowie oft auch Emotionalität auszeichnen, können neben dem notwendigen faktenbasierten Wissen im Sinne der politischen Bildung einen Beitrag zum deutsch-deutschen Verständnis leisten", so Sarah Alberti im Zusammenhang mit ihrem im Oktober veröffentlichten Projekt "Kunstszene/Ost – Biografien im Umbruch", für das sie und Birgit Grimm 20 Protagonistinnen und Protagonisten der Kunstszene der DDR interviewten.
In herausfordernden Zeiten braucht es Geschichten und Figuren, die Mut und Trost spenden, die uns etwas von ihrer Kraft abgeben. Die zu uns sprechen und sagen: Wir schaffen das. Die bereits Momente erlebt haben, in denen ihre Freiheit, ihre Unversehrtheit, ihr Leben bedroht waren und die doch nie aufgehört haben zu kämpfen, sich für Selbstbestimmung, Freiheit, Gleichberechtigung und solidarisches Miteinander einsetzten. Die ihren Blick liebevoll auf die Mitmenschen richteten und sich für deren Lebensrealität interessierten.
Projektionsflächen, die wir alle brauchen
Diese Stärke, Resilienz und diese Power finden wir in den Werken zahlreicher Künstlerinnen aus der ehemaligen DDR, sowohl in historischen als auch in aktuellen. Natürlich gibt es die genannten Werte auch in anderen Arbeiten, doch hier geht es nun mal um jene aus der DDR.
Wir bekommen hier Figuren und Erzählungen angeboten, die wir als Projektionsflächen brauchen können, die uns helfen, eine Erzählung zu formulieren, die auf Menschlichkeit und kritischem Verstand basiert. In welcher Form? Das kann jeder und jede bei der Kunstbetrachtung selbst herausfinden. Anlass dazu gibt es ja jetzt genug.