Eigentlich möchte man über Selfies gar nicht mehr reden. Alle Witze über Touristen mit Narzisstenstangen, wie Selfie-Sticks boshaft genannt werden, sind gemacht. Alle Ausstellungen über Selfies, die in den letzten Monaten bisweilen genervt besprochen wurden, sind abgehängt. Und alle entlarvenden Selfie-Studien, die einen Zusammenhang zwischen Narzissmus, Psychopathie und Selfies zeigen, sind publiziert. Da selbst Justin Bieber unlängst verkündet hat, Instagram sei die Hölle, und Kim Kardashian nach ihrer Sendepause etwas besonnener daherkommt, sind bis auf Weiteres keine Nackt- oder Po-Selfies zu erwarten, die für neuen Gesprächsstoff sorgen könnten. Sofern auch Ai Weiwei sich ruhig verhält.
Jetzt könnte man natürlich sticheln, dass damit nun endlich die Zeit für die Wissenschaft gekommen ist, sich mit dem Thema ausgiebig zu beschäftigen. Wenn es nicht im Frühjahr 2015 schon eine größere internationale und interdisziplinäre Tagung in Marburg über das Selfie gegeben hätte. Und trotzdem, erst jetzt ist der Trend auszumachen: Die Geisteswissenschaften in Deutschland interessieren sich stärker als je zuvor für das digitale Zeitalter. In Frankfurt ging es Ende November um die Kunstkritik und die Frage, so der Untertitel des Symposiums, wie die digitale Vernetzung und Verbreitung der Kunst neue Herausforderungen an die Kritik stellt. Anfang November tagte in Mannheim die Deutsche Gesellschaft für Photographie unter dem Titel "Die Wucht des Wandels" zum Thema Smartphone-Fotographie. Im April heißt es "Hallo, Vermittlung!?" in Hamburg, ein Thema wird dann die digitale Kunstvermittlung sein. Und kürzlich fand in Nürnberg ein Selfie-Symposium statt. Wenn es doch nur so amüsant gewesen wäre, wie es klingt.
Nachdem also mit der Flut an Ausstellungen zu Selfies fünf Schritte in die richtige Richtung gemacht wurden, ging es jetzt in Nürnberg im Eiltempo fünf Schritte zurück. Das "Ego Update" war im Düsseldorfer NRW-Forum Thema, "Ich bin hier!" wurde in der Karlsruher Kunsthalle ausgerufen und damit die Kernbotschaft von Selfies gleich im Titel übermittelt, denn wer Selfies postet, der sagt auch: Schaut her, ich bin das, was ich teile, was ich euch zeige, was ihr von mir zu sehen bekommt. Fünf oder zwei Minuten später kann das schon wieder ganz anders aussehen, weil man sich in anderer Begleitung woanders befindet. Ein Selfie ist kein Selbstporträt, sondern eine flüchtige Momentaufnahme, eine Standortbestimmung, ein Stimmungsbild, so banal diese Feststellung auch klingen mag. Handzeichen bitte, wer noch nie "Ich war hier!" irgendwohin geschmiert hat.
Mit dem Selfie auf Facebook, Snapchat und Co. erreicht man heute viel schneller viel mehr Menschen, die noch dazu für alle sichtbar kommentieren – früher musste man sich damit begnügen, dass die besten Freundinnen auf dem Schulhof "Du bist so schön" seufzten. Mit dem Selfie fordert man direkt auf: Like mich! Die Frankfurter Schirn strich das "Ich" – als wäre all das zu viel des Guten – kurzerhand durch und ließ eine Essiggurke von Erwin Wurm auf dem Plakat posieren. Denn Künstler machen keine Selfies. Was natürlich nicht stimmt, eine plakative These war das aber allemal. Kurz durch Instagram geklickt und schon findet man etwa beim Magnum Fotografen Alec Soth Selfies und bei Stephen Shore, einem Mitbegründer der New Color Photography in Amerika.
In Nürnberg stand wieder das Hashtag vor dem Ich, und damit der Wunsch der digitalen Identität nach Vernetzung und Mitteilung. Über "#Ich. Das Selfie in der gegenwärtigen Bildkultur" sollte gesprochen werden. Anlass für das Symposium war ebenfalls eine Ausstellung, die im Oktober aus Bonn und Köln in den Süden gewandert war. Die Schau "Mit anderen Augen. Das Porträt in der zeitgenössischen Fotografie" zeigte in der Kunsthalle Nürnberg und im Kunsthaus 43 deutsche und internationale künstlerische Positionen seit den 90er-Jahren. Darunter Thomas Ruff und Thomas Struth, Wolfgang Tillmans, Christopher Williams und Tobias Zielony. Nur das Selfie fehlt. Zumindest in der Ausstellung selbst.
Im Katalog hat Klaus Honnef die Geschichte des Porträts in der zeitgenössischen Fotografie zu Ende geschrieben. "Tatsächlich ist das Selfie die Vollendung der Geschichte des individuellen Bildnisses", schreibt er darin. Was im späten europäischen Mittelalter mit dem Aufstieg des Stifterbildnisses zum Dialogpartner der Heiligen begonnen habe, dem setze die digitale Fotografie in Gestalt des Selfies den Schlussstein: "Der Emanzipation des individuellen Menschen im Bild". Die Smartphone-Fotografie erst habe möglich gemacht, dass alle Menschen ihr Bildnis gestalten können. Von narzisstischen Neigungen und ästhetischem Verfall möchte er nichts hören. Die Narzissmus-Keule sollte auch beim Symposium nicht geschwungen werden. Die These sei aber geeignet, sagten die Veranstalter Lars Blunck, Professor an der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg, und Matthias Dachwald, Kurator am Kunsthaus Nürnberg, zu fragen, in welcher Beziehung die Porträtfotografie zum Selfie stehe.
Tatsächlich wurde dann vier Stunden über Selfies gesprochen und diskutiert, ohne dass sich Selfies angesehen wurden. Eine Ausnahme war die Präsentation von Alain Bieber, dem Direktor des NRW-Forum Düsseldorf, der durch die von ihm kuratierte Schau "Ego Update" führte. Er zeigte die feministische Arbeit "Excellences & Perfections" von Amalia Ulman, eine Performance, die monatelang auf Instagram ohne das Wissen ihrer damals knapp 5.000 Follower stattfand. Ulman inszenierte sich als braves Mädchen aus der Vorstadt, aus dem nach einem Umzug in die Großstadt ein Hot Babe wurde. Klischee folgte auf Klischee: Schönheitsoperation, Sugar Daddy, Drogensumpf, Absturz, Auferstehung wie ein Phönix aus der Asche nach einer Runde Yoga. Selfies, fast ein halbes Jahr lang, im Badezimmer, im Bett, beim Workout, beim Essen, lauter Stereotype, die Ulman in den sozialen Medien ausmachte.
Bieber präsentierte auch zwei Arbeiten des holländischen Künstlers Erik Kessels, der die über uns hereinbrechende Bilderflut clustert. Fußfotos zieren eine Skaterampe, Penis-Selfies hat Kessels in einem Buch zusammengestellt. Was die Frage in der Diskussionsrunde im Anschluss an den Vortrag aufkommen ließ – die schließlich das ganze Symposium dominierte –, was Selfies denn nun genau seien. Können Fotos von Körperteilen überhaupt Selfies sein, fragte man sich, ganz so als habe man noch nie von den Hashtags #dickselfie, #legfie (Selfies von Beinen), #belfie (Po-Selfies) und #footselfie gehört.
Ganz zu Beginn hatte Blunck noch einmal eine Definition des Selfies in Anlehnung an die Rede von der Fotografie als eines Spiegels mit Gedächtnis vorgenommen – "das Selfie ist ein elektronischer Handspiegel mit Gedächtnis und Distributionsschnittstelle". Vor fast drei Jahren schon hatte der Kunstkritiker Jerry Saltz das Selfie als neue Gattung mit eigenen Gesetzmäßigkeiten definiert. Objekte sehe man meistens ungefähr im Abstand einer Armlänge, man sehe fast immer den Arm eines Fotografen, daher würden sich Bildausschnitt und Aufbau auch von allen Porträtvorläufern unterscheiden. Wenn nun aber beide Hände im Bild zu sehen seien, handele es sich ganz klar um ein Porträt. Soweit Saltz.
Man hätte sich in Nürnberg einen sehr großen Gefallen getan, wenn man mit dieser Definition gearbeitet hätte, wenn man sich durch Instagram, Tumblr und Snapchat geklickt und Selfies über Selfies von Amateuren und Künstlern gleichermaßen angesehen und mitgebracht hätte. Stattdessen zeichnete der Doktorand Christian Schulz die Entwicklung von Smartphone-Kameras nach und erklärte das Interface von Instagram und Snapchat. Und Felicitas Thun-Hohenstein sprach mit Roland Barthes unter dem Arm über Topologien des feministischen Selbst, über Selbstporträts, Selbstdarstellung und Selbstauslöser. Um Selfies ging es bei ihr nicht, sie hielt sich im vergangenen Jahrhundert auf.
Auf die Frage, warum man eigentlich vier Stunden über Selfies spreche, ohne sich Selfies anzusehen und man trotzdem meine, man könne so zu Ergebnissen kommen, kam die Antwort: Es fehle die Zeit, sich intensiv mit den sozialen Medien zu befassen. Irgendwie verständlich. Das Gesamtwerk von Jan Vermeer ist dann doch etwas übersichtlicher. Es verändert sich nicht so schnell und es verlangt einem auch nicht ganz so viel Präsenz ab. Nur was, wenn Studenten sagen, ach, keine Zeit für das Studium der Sekundärliteratur für die Seminararbeit über Vermeer? Angesichts der Fülle des Materials in den sozialen Medien herrschte Ratlosigkeit bei den Wissenschaftlern. Da hilft nur eins: Die sozialen Medien täglich genauso zu studieren wie die Tageszeitung und die Fachliteratur.
Und während man noch denkt, Selfie-Ausstellung gab es jetzt aber wirklich genug, gut, dass wir das hinter uns gebracht haben, kündigt die Londoner Saatchi Gallery die Schau "From Selfie to Self-Expression" an, die ab 31. März zu sehen sein wird. In der Pressemitteilung heißt es: "Die Ausstellung erstreckt sich über die gesamte Fläche der Saatchi Gallery und ist die weltweit erste zur Geschichte des Selfies, von alten Meisterwerken bis heute." Was ein wenig an die Karlsruher Schau erinnert. Im Vorfeld findet außerdem der #SaatchiSelfie-Wettbewerb statt, der "eine globale Plattform für Selbstdarstellung bietet", wie es in der Pressemitteilung weiter heißt, die "kreativsten Selfies" werden in der Saatchi Gallery präsentiert.
Das könnte tatsächlich neu sein: Eine Ausstellung, die nicht nur Selfies von Künstlern und Fotografen zeigt oder Selfies, die Künstler und Fotografen in den sozialen Medien gesammelt haben. Bis dahin einfach weitermachen wie bisher und abwarten, wie viele Selfie-Ausstellungen die nächsten Jahre noch bringen werden.