Erst mit Fotografie und Film wurde die Lebenswirklichkeit großer Teile der Menschheit – Kindheit, Schul- und Berufsalltag, Krisen- und Kriegserfahrungen – im Bild festgehalten und überliefert. Erst Foto und Film konnten mit Wort und Schrift mithalten und genau wie diese von der Familie und den Freunden erzählen, von Reisen und anderen besonderen Erlebnissen, konnten Listen, Register und Stammbäume darstellen. Sie dienten also der Verständigung, genauso wie praktischen, persönlichen, aber auch kommerziellen oder bürokratischen Zwecken.
Nun sind diese Bilder der Lebenswirklichkeit seit dem Aufkommen von Fotografie und Film nie künstlerisch intendiert und nur in Ausnahmefällen ästhetisch ambitioniert, weshalb sie eher selten öffentlich ausgestellt und diskutiert werden. Das ist schade, wie jetzt der erste Teil einer dreijährigen Ausstellungsreihe in der Walther Collection in Neu-Ulm zeigt, die sich genau diesen Alltagsmotiven, auch "vernakulare Fotografie" genannt, widmet.
Dabei ist die Ausstellung in fünf Themenfelder gegliedert: "Jenseits des Porträts", "Das fotografische Objekt", "Dekolonisiert: Veränderte Sichtweisen der afrikanischen Identität", "Fotoalben: Archive des täglichen Lebens" und schließlich "Darstellung von Gender und Identität". Angesiedelt sind sie im Weißen Kubus, im Grünen, im Grauen und im Schwarzen Haus und verhandeln alle das Thema Porträt. Spontan staunt man während des Rundgangs durch die vier Gebäude des Museumscampus, wie interessant die gezeigten Bilder und Objekte zu betrachten und zu ergründen sind. Wie reizvoll allein schon das banale Fotoalbum in den ausgestellten Exemplaren wirkt, weil es als einstmals neues Medium besonders gestaltet wird; sei es in Eigenregie oder als Industrieprodukt
Einblick in ein privilegiertes Leben
Ethel "Essie" Buddle Atkinson etwa, die das "Album eines heranwachsenden Mädchens" hinterließ, stammte aus einer englischen Adelsfamilie, die bekannte Künstler und eben auch Albummacher hervorbrachte. Einmal im Jahr fotografierte sie ihre Tochter vom ersten bis zum 18. Lebensjahr in der immer gleichen Frontalansicht als Ganzfigur.
Obwohl sich die Mutter nur für das Heranwachsen der Tochter Ethel Claire "Linne" Lundbeck (1928-2000) interessierte, geben die Bilder Einblick in ein privilegiertes Leben auf dem Familiensitz und an verschiedenen europäischen Urlaubsorten. Gleichzeitig ist der planmäßige, konzeptuelle Aspekt des Albums unübersehbar, was bei heutigen Betrachterinnen unwillkürlich Assoziationen an die intellektuelle Kunstfotografie seit den 1970er-Jahren aufruft.
Im Grauen Haus bietet die Fotografie jenen, die kein konventionelles heteronormatives Geschlechterleben kennen, eine Bühne zur Selbstdarstellung, einen Freiraum und einen "Safe Space", und es zeigt sich, dass die anonymen Autorinnen und Autoren damit schon viele genderkritische Inszenierungen der Fotografie im Kunstraum vorwegnehmen. Im Weißen Kubus sind die in Mexiko lange Zeit beliebten, in Rahmen präsentierten plastischen Porträtfotoreliefs aus der Zeit von 1930 bis 1970 Teil des Themas "Das fotografische Objekt". Und es scheint, als fände dieser Ansatz in Tony Ourslers sprechenden Dummies seine Vollendung.
Das Ungewöhnliche im Gewöhnlichen
Die in Neu-Ulm gezeigten Familienfotos, die Aufnahmen von Crossdressern, von Wanderarbeitern und Ringerinnen, die Fahndungs-, Pass- und Automatenfotos, die Postkarten und Objekte (wie der Brotkasten mit den Pornofotos), erscheinen im Licht der Öffentlichkeit komplexer, als sie ursprünglich einmal gedacht waren. Sie scheinen sich zu wandeln und alles andere als alltäglich zu sein.
Dazu trägt natürlich auch bei, dass geschulte Augen diese Hervorbringungen der Alltagsfotografie begutachtet haben, jederzeit in der Lage, das Ungewöhnliche im Gewöhnlichen zu sehen. Nicht jedes Familienalbum wurde in die Sammlung aufgenommen. Erst in diesem Prozess, sagt die Kulturwissenschaftlerin Barbara Kershenblatt-Gimblett im Begleitbuch der Ausstellung "Imagining Everyday Life", entstehe die Idee und das Genre der "vernakularen Fotografie". Aber will man die oft kleinteilig bestückten Alben und Fotokonvolute ausstellen, bedarf es eben besonderer Aufmerksamkeit für Übersicht und Ordnung der Präsentation.
Eines der eindrücklichsten Displays allerdings folgt nicht diesem Design: Das "Lost & Found Project (Munemasa Takahashi)" ist eine riesige Wolke unsortierter, fast völlig unleserlicher Farbfotografien. Sie stammen aus der Initiative "Bewahrung der Erinnerung", einem Gemeinschaftsprojekt der Präfektur Miyagi mit dem Ziel, Familienfotos, die durch das verheerende Erdbeben und den Tsunami vom 11. März 2011 an der Westküste Japans verloren gegangen sind, zu digitalisieren und ihren Besitzern zurückzugeben.
Ein kollektives Bildarchiv nach der Katastrophe
Von den bislang 750.000 geborgenen Fotos sind inzwischen rund 400.000 wieder bei ihren Familien. Unzählige weitere, stark beschädigte Bilder konnten nicht mehr identifiziert werden, was den Künstler Munemasa Takahashi auf die Idee brachte, sie in ein kollektives Bildarchiv zu überführen: als Ort der Erinnerung an die Anstrengungen der freiwilligen Helfer und derer, die damals ihr Leben verloren.
An der gegenüberliegenden Wand herrscht dann Ordnung. Dort finden sich 80 Metallpins mit je einem kleinen Fotoporträt und der Aufschrift "G. & G. Precision Works, INC.". Es handelt sich um die Mitarbeiterausweise eines kleinen Fertigungsbetriebs, die dort um 1940 in Gebrauch waren. Das Unternehmen, das eigentlich für seine Haushaltsgeräte bekannt war, produzierte während des Krieges Präzisionsteile für Kriegsflugzeuge und stützte sich, wie die Fotos zeigen, auf eine recht vielfältige Belegschaft, zu der viele Frauen und Schwarze Menschen gehörten.
Die Anstecknadeln bilden fast automatisch ein interessantes und auffälliges Display. Die Porträtalben hingegen sind eine Herausforderung. Ihre meist dicht bestückten Blätter liegen aufgeschlagen in Vitrinen oder werden an der Wand präsentiert. Teils mit den Originalseiten, teils mit Reproduktionen der Fotos, die dann vergrößert und gerahmt an der Wand hängen.
Eine besonders vertrackte Konzeptkunst-Ausstellung
Die Kuratoren Brian Wallis, Daniela Yvonne Baumann und Melek Baylas haben auch digitale Scans ganzer Seiten anfertigen lassen, die sie als großformatige Wandtapeten präsentieren. Eine weitere Möglichkeit ist das Video: Anonyme Schnappschüsse von Schauspielerinnen, von der Beerdigung J.F. Kennedys oder der Mondlandung, die vom Fernsehbildschirm aufgenommenen wurden, flimmern nun wieder über den Monitor.
Das Ausstellungsdesign ist also abwechslungsreich und bemüht sich zusammen mit den begleitenden Texttafeln um die nötigen Fakten und den Überblick, verstärkt aber den Eindruck, in einer besonders vertrackten Konzeptkunst-Ausstellung gelandet zu sein.
Die sozialhistorische Erzählung scheint dabei in den Hintergrund zu treten. Doch deren Befunde sind hinreichend bekannt – Aufnahmen für kommerzielle, bürokratische und private Zwecke zielen im Gegensatz zum klassischen Porträt nicht auf den individuellen Charakter, sondern auf gesellschaftlich definierte Merkmale und Klischees ethnischer Zugehörigkeit, Klasse, Geschlecht oder Status. Wie dies im Einzelfall geschieht, ist dagegen weit weniger bekannt, und daher ist "Wer wir sind" so aufschlussreich.
Bürokratie schafft Bilder
"Diverse Postkarten ca. 1900 bis 1942" zeigen dann etwa das Bild der Afrikanerinnen und Afrikaner entsprechend den Vorstellungen der europäischen Kolonialherren als Krieger, nackte Wilde, Stammeshäuptling, aber auch – aufgrund bürokratischer Anforderungen – weitaus realistischere Porträts der aufstrebenden afrikanischen Mittelschicht in Anzug und mit Fahrrad, dazu Aufnahmen bedeutender Häuptlinge und politischer Persönlichkeiten.
Im Rundgang wird auch deutlich, wie oft das visuelle Social Engineering konterkariert und gerade die Abweichung von der Norm als bildwürdig erachtet wird: sei es die enthemmte Silvesterparty in einem deutschen Album aus den 1950er-Jahren oder das Album von Private Paul LaVallais, das den Besuch der "Miss Black America" Stephanie Clark mit ihrem Gefolge 1971 in Vietnam festhält. Es zeigt Soldaten, die die Flagge und die geballte Black-Power-Faust zum Gruß erheben. Oder seien es die großartigen Carte de Visite-Porträts von Zirkusartisten, die um 1865 gekauft und für das eigenen Album gesammelt wurden.
Und dann gibt es noch Reste der Porträts, die Martina Bacigalupos in ihrer Arbeit "Gulu Art Studio" (2011-2012) untersucht. In dem titelgebenden Studio nimmt der ortsansässige Fotograf Obal Denis standardisierte Passfotos von ugandischen Gulus auf, indem er Ganzkörperbilder anfertigt, aus denen er das Gesicht herausschneidet. Die italienische Fotojournalistin montierte diese Motive mit der signifikanten Leerstelle zu einem Tableau, auf dem nun Gesten, Posen und Kleidung das Bild individueller Charaktere evozieren. "Vernakulare Fotografie" – am Ende läuft es einfach auf Konzeptkunst hinaus.