Pittsburgh ist bekannt für seine Stahlindustrie, die über 400 Brücken über die unaussprechlichen Flüsse Allegheny und Monongahela, sowie die Produktionsstätten des Heinz-Ketchup, den die Bewohner schon zum Frühstück in großzügigen Mengen verzehren. Allerdings lässt sich in der zweitgrößten Stadt des Bundesstaates Pennsylvania auch einiges an Kunst entdecken. Das Andy Warhol Museum zeugt davon, dass im Stadtteil Oakland vor 90 Jahren der polnische Immigrantensohn Andy Warhola geboren wurde, der schon während seines Illustrationsstudiums an der Pittsburger Universität das zweite a seines Nachnamens verschwinden ließ und später in New York seine 15 Minuten Ruhm zu ein paar Jahrzehnten ausweitete.
Der Industrieboom ab dem späten 19. Jahrhundert spülte einige der lokalen Firmenbosse unter die reichsten Männer des Landes - viele Namen, die heute zu Ehren der Gönner an großen Museen, Bibliotheken oder Konzerthallen prangen, kommen ursprünglich aus Pittsburgh: Henry J. und John Heinz, Henry Clay Frick, Andrew Carnegie. Der Stahlmogul Carnegie, den die Einheimischen mit Stolz und Akzent auf der zweiten Silbe aussprechen (Car-NE-gie), ist auch der Gründer des gleichnamigen Museums nahe des Universitätscampus. Der massige neoklassizistische Bau vereint ähnlich wie das New Yorker Metropolitan Museum die Disziplinen Kunst (Sammlung von Franz Hals bis Kara Walker) Geschichte (ein Saal voller nachgebauter griechischer Tempelanlagen) und Naturwissenschaften (Dinosaurier). Schon 1896 legte Carnegie fest, dass alle zwei bis fünf Jahre eine Ausstellung den Stand der Kunst in der Gegenwart abbilden sollte. Die "Carnegie International", die am Wochenende zum 57. Mal eröffnet wurde, ist damit fast genauso alt wie die Biennale in Venedig und eine kleinere Version des Konzepts Documenta.
Obwohl die Schau seit über 100 Jahren vor allem in den Räumen des Museums stattfindet, hat sich anscheinend noch nie vorher ein Künstler die Namen genauer angeschaut, die der Museumsstifter am Außengesims des Gebäudes in den Sandstein meißeln ließ. Oder vielleicht musste es 2018 werden, bis Tavares Strachnan mit seinem Außenkunstwerk "The Invisibles" darauf aufmerksam macht, dass Carnegies gesammelte Genies der Kulturgeschichte allesamt weiße Männer sind. Der Beginn der Intervention wird in eine heitere Auftaktzeremonie mit dem New Yorker Tourguide und Comedian Timothy Speed Levitch verpackt, der Moses kurzerhand zum kreativsten Fremdenführer der Geschichte erklärte (erst durch die unabwechslungsreiche Wüste, aber dann Instagram-tauglich ein Meer geteilt).
Eine Gruppe aufgeweckter Kinder in selbstverzierten weißen Uniformen verliest danach vor einem der Seitenportale die Namen von Strachnans Alternativliste an übersehenen Persönlichkeiten aus den Künsten und Wissenschaften, darunter vor allem Frauen und nicht-weiße Künstler und Forscher. "Vielleicht heißt Geschichte schreiben, sie zu überschreiben" sagt eins der Kinder und reckt kämpferisch eine Faust in die Luft. Auf Knopfdruck leuchten schließlich Strachnans neue Neonlichtnamen an der Fassade auf. Malcolm X überstrahlt Shakespeare, Artemisia Gentiliesci scheint während der Carnegie International heller als ihre männlichen Malerkollegen. Die Zeremonie geht gelöst und erfreulich undidaktisch zu Ende, nur die ein oder andere Gönnerdame des Museums im Glitzerleibchen beschwert sich lautstark über die herbstliche Kälte und möchte lieber wieder rein.
Bei aller Trumpigkeit des mittleren Westens macht die liberale Enklave Pittsburgh deutlich, dass das Thema "diversity" in den USA nicht mehr von der Agenda zu wischen ist - und wie man es souverän und elegant angehen kann. Der Künstler und das Museum verhandeln gerade über Möglichkeiten, das Werk dauerhaft im und am Haus zu halten. Stehen würde es einer altehrwürdigen Institution wie dem Carnegie jedenfalls ausgezeichnet. Auch der lebensgroße Plastik-Dinosaurier auf der Wiese, der nun vom Dach her mit veränderten Prioritäten vollgeleuchtet wird, trägt es mit Fassung.
Der Rest der Ausstellung, der sich in den Sammlungen des Museums verteilt, trifft immer wieder Nerven der Zeit, weigert sich aber, ein konkretes Thema zu formulieren. Kuratorin Ingrid Schaffner will das Internationale nicht als Inhalt, sondern als Bedingung ihrer Schau verstanden wissen. In den Werken von Postcommodity, Abel Rodriguez, Lynette Yiadom-Boakye oder Huma Bhabha schwingt immer wieder das Verlangen nach einem erweiterten Kunstkanon mit, doch die Ausstellung versucht es mit Selbstverständlichkeit statt mit Kampfansage. "Das traut sich seit der Documenta 14 keiner mehr", sagt eine Kollegin aus New York im Tastaturklappern des improvisierten Presseraums.
Statt Belehrung setzt Ingrid Schaffner auf "museum joy", eine sinnliche Erfahrung von In-der-Welt-sein, die manchmal gelingt und ab und zu ins Kitschig-Wohlfühlige abrutscht (bei vietnamesischem Kaffee in Hängematten helfen auch die handbemalten Drachen von Joan Jonas nichts).
Eine verführerische Mischung aus Freude und bitterem Nachgeschmack ist Alex da Corte gelungen, der ein gruselig-schönes Neonhaus gebaut hat, in dem in unendlicher Wiederholung seine selbstgedrehten Comicfilme laufen. Mit einem Soundtrack der Sängerin St. Vincent bekommen selbst die daueraufgedrehten Kindheitshelden Bugs Bunny und Bart Simpson etwas Melancholisches. Vor dem Museum redet Alex da Corte über Nostalgie, Freude und die Verletzlichkeit seiner Arbeit. Ironie interessiert ihn nicht, er will etwas von der Begeisterung anzapfen, die Kinder vor dem Fernseher empfinden. Dass dabei eine hyperglatte Welt entsteht, die ins Groteske kippt, ist ein erwünschter Nebeneffekt. Den Bart Simpson, der skateboardfahrend im Video auftaucht, hat er ausnahmsweise nicht selbst gespielt. Er war zu groß für das Kostüm. Und skateboarden kann er auch nicht.
Abends feiern dann die Freunde und Förderer des Museums auf der sogenannten Revel Party. Im Gotiksaal des Museums ist zwischen Nachbildungen von Kathedralenwänden ein beeindruckendes Nachtischbuffet und der gesamte Rosenvorrat Pennsylvanias drapiert. Die Stimmung erinnert an eine Politikerhochzeit. Im Raum befinden sich höchtstwahrscheinlich mehr Pailetten, Geld und Botox als im gesamten Stadtgebiet Berlins. Irgendwann tanzen ein paar todesmutige Paare zur Cover-Liveband, während auf Leinwänden im Hintergrund ein animierter T-Rex seine Echsenhüfte im Takt bewegt.
Eine ganz andere Implikation des Glitzerns und Glänzens findet sich am nächsten Tag im Andy Warhol Museum, das ebenfalls zur Familie der Carnegie-Institutionen gehört. Aus Downtown führt der Weg stilecht über die Andy Warhol Bridge, einer quietschgelben Eisenkonstruktion, die an eine geschrumpfte Brooklyn-Bridge erinnert und von der aus man die schier endlosen Güterzüge beobachten kann, die altmodisch pfeifend nach Westen rattern. Warhol habe Pittsburgh nicht sonderlich gemocht, gibt der Direktor bei der Begrüßung zu, deswegen sei er sofort nach dem Studium nach New York gezogen. Seine Familie lebe allerdings noch immer hier.
Neben Auszügen aus der umfangreichen Sammlung zeigt das Museum auch immer wieder Ausstellungen von anderen, möglichst wesensverwandten Künstlern. Gerade wird die erste Soloschau des jungen Malers und Fotografen Devan Shimoyama eröffnet, der sich wie Warhol mit Queerness, Pop- und Drag-Kultur auseinandersetzt. Mit seinen perlen- und pailetten-besetzten Männerporträts scheut er weder Opulenz noch Trash-Anleihen. Es geht ihm um die Brüchigkeit klassischer Männlichkeitsbilder und die Weichheit schwarzer Männerkörper, die er oft vermisst. An den Wänden hängt eine Tapete mit schwarzen Glitzertränen. Shimoyama lässt seine symbolschweren Bilder gegen die Stigmata anglänzen, die an queeren schwarzen Männern haften. Crying at the discotheque.
Als es später wird, betritt die Dragqueen Miss Toto aus Florida die Bühne, die als Porträt von Devan Shimoyama ebenfalls in der Ausstellung hängt. Miss Toto ist Bodybuilderin und schlägt im goldenen Lederkostüm und High Heels mühelos Saltos über die Bühne. Nach einem Pop-Diva-Medley und Queens "Bohemian Rhapsody" ist der Abend zu Ende. 15 Minuten Ruhm, dann allgemeiner Aufbruch. Was Warhol dazu gesagt hätte? Im Museum mampft er auf einem Bildschirm ungerührt und in Endlosschleife einen wenig appetitlich aussehenden Hamburger. Neben seinem Teller steht selbstverständlich eine Flasche Heinz Ketchup.