Eine Schar Fotografen, Reporter und Demonstranten drängten sich während eines "Free Julian Assange"-Protests am gestrigen Dienstag um einen drei Meter hohen Vogelkäfig vor Londons zentralem Strafgerichtshof, dem Old Bailey. Darin: die 79-jährige Modedesignerin Dame Vivienne Westwood in einem knallgelben Hosenanzug. "Ruhe bitte!" ruft sie ins Megafon. Und dann: "Ich bin Julian Assange. Ich bin der Kanarienvogel im Kohlebergwerk!"
Was für nicht englischsprachige Menschen erst einmal rätselhaft klingt, ist eine alte englische Redensart. Kanarienvögel wurden früher wegen ihrer Empfindlichkeit gegenüber Sauerstoffmangel und giftigen Gasen in die Zechen mitgenommen. Starb der Vogel, so wussten die Arbeiter, dass sie die Mine besser verlassen sollten. Ein canary in the coal mine ist also jemand, dessen Empfindlichkeit gegenüber widrigen Bedingungen es zu einem Indikator für solche Zustände macht. Und für Vivienne Westwood ist Assange eben genau das – ein Frühwarnsystem für Gefahr.
"Das Schlimmste, was der Welt passieren kann"
Der Kanarienvogel sei bereits halb vergiftet durch die Korruption des Rechtssystems durch die Regierung, trotzdem habe es ein Großteil der Weltbevölkerung noch nicht verstanden. "Wir haben keine Zeit zu verlieren", proklamierte Westwood, die als Punk-Ikone und politische Aktivistin ebenso bekannt ist wie als Couturier der Stars. "Wenn Julian nach Amerika geschickt wird, ist das das Schlimmste, was der Welt in puncto Gerechtigkeit und Redefreiheit passieren könnte. Das könnte jedem Journalisten passieren."
Julian Assange, der mit seiner Plattform Wikileaks unter anderem Kriegsverbrechen der US-Armee öffentlich gemacht hatte, sitzt nach sieben Jahren Asyl in der ecuadorianischen Botschaft in London seit April 2019 im britischen Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh - eine Tatsache, die während der Corona-Pandemie nur noch wenig öffentliche Aufmerksamkeit bekam. Ihm wird vorgeworfen, 2012 gegen Kautionsauflagen verstoßen zu haben. Die USA fordern seine Auslieferung und haben im Sommer 2019 das dazugehörige Verfahren eingeleitet. Dort drohen ihm eine Anklage, unter anderem wegen Spionage, und bis zu 175 Jahre Haft. Am 7. September soll Assange zu einer Extraditionsanhörung erscheinen. Der Termin war wegen der Ausbreitung des Corona-Virus verschoben wurden. Schon voriges Jahr protestierten weltweit Künstler und Intellektuelle für Julian Assange, darunter auch Ai Weiwei in Berlin.