Einst stand die Zeche Zollverein in Essen für den Aufbruch in ein neues Zeitalter. "Eiffelturm des Ruhrgebietes" nannte man das kühn konstruierte Steinkohle-Bergwerk, das 1986 stillgelegt wurde – gemeinsam mit der direkt benachbarten Kokerei formiert es sich zu einem Industrie-Koloss, dessen Dimensionen einen regelrecht erschlagen können. Als UNESCO-Welterbe hat die Zeche Zollverein seit 2001 den Charakter einer Denkmallandschaft angenommen.
Wider den Stachel des Musealen löckt jetzt das Digitalfestival New Now. In der Mischanlage der Kokerei und an anderen Schauplätzen kann man die Kunst von morgen in Aktion erleben. Mit den vertrauten Formaten – Malerei, Skulptur, Installation, Fotografie, Video – hat die nicht mehr viel gemein: Künstliche Intelligenz (KI), smarte Algorithmen und raffinierte Robotik haben das Kommando übernommen. Sieben Künstler lud die New-Now-Kuratorin Jasmin Grimm ein, um vor Ort neue Arbeiten zu produzieren. Mit von der Partie sind Daniel Franke, das Studio AATB (Andrea Anner und Thibault Brevet), Eva Papamargariti, Sabrina Ratté, Jana Kerima Stolzer & Lex Rütten, Haha Wang und Pınar Yoldaş.
Was sie nach mehrmonatiger Recherche und Vorbereitung vor Ort geschaffen haben, ist großartig: Beim Rundgang durch die Mischanlage fühlt man sich wie im visuellen Wunderland. Bizarre, nie gesehene, nicht einmal erahnte Formen, surreale Szenen, im Vergleich zu denen ein Dalí beinahe einfallslos wirkt, dazu suggestiver Sound und eine Farbenpracht, die sich von der düsteren Atmosphäre des Gebäudes wirkungsvoll abhebt – all das zieht einen in den Bann. Das Schlagwort von den immersiven Welten, mittlerweile überstrapaziert, hat hier wirklich seine Berechtigung.
"Allein diese Dimensionen!"
Offenbar erwies sich das einzigartige Zollverein-Ambiente als besonderer Ansporn für die in der Mischanlage präsentierte Digitalkunst. "Als Künstler hat man nicht oft die Möglichkeit, an so einem geschichtsträchtigen Ort zu arbeiten", erläutert Jasmin Grimm. Und ergänzt, mit Blick auf die einstige Koksproduktion: "Der außerdem so relevant ist wegen der Klimakrise." Die Kuratorin erzählt, dass der eine oder andere New-Now-Teilnehmer sein Konzept unter dem Einfluss der Recherche sogar vollständig umgekrempelt habe. Jasmin Grimm: "Die Begegnung mit dem Ort verändert so viel. Allein diese Dimensionen! Dass man merkt, diese Räume wurden nicht für Menschen gebaut, sondern für Maschinen."
"Hypernatural Forces", so lautet das Motto des von der Stiftung Zollverein ausgerichteten Festivals; neben der Kernausstellung in der Mischanlage umfasst es ein weitgefächertes Rahmenprogramm sowie eine Reihe von Satelliten-Projekten im Ruhrgebiet und in Düsseldorf. Was hat es mit dem Titel auf sich? Natur und Technik denkt Jasmin Grimm nicht als Gegensätzliches, sondern als etwas, was sich ergänzt. Die Perspektive der Technologie erlaube "eine neue Beziehung zur Natur". Grimm nennt ein prominentes Beispiel: "Ohne Big Data würden wir fast nichts über den menschengemachten Klimawandel wissen."
Roboterhunde als Begrüßungskomitee
Wer die Trichterebene der Mischanlage betritt, macht zunächst Bekanntschaft mit dem "Spare Pack" – so tauften Andrea Anner und Thibault Brevet vom Studio AATB ihre in China erworbenen fünf Roboterhunde, die das Areal durchstreifen. Ein Serienprodukt, das Brevet völlig individuell programmiert hat. Das Ziel, ergänzt Anner, sei ein "komplexer Dialog zwischen Tier, Maschine und Mensch". Bei unserem Rundgang machten die motorischen Vierbeiner noch einen etwas schlappen Eindruck. Beruhigend jedenfalls: Roboterhunde beißen nicht.
Allerdings fallen die AATB-Vierbeiner aus dem New-Now-Rahmen. Typischer sind Installationen, die um das Leitmotiv Pflanze kreisen. Was Sinn macht, wenn man sich vor Augen führt, dass Kohle über einen Zeitraum von Jahrmillionen aus abgestorbenen Pflanzen entstanden ist. So basiert Sabrina Rattés Arbeit "Inflorescences" zwar auf Elektroschrott aus dem Ruhrgebiet – Scans der Geräte hat die kanadische Künstlerin zum Ausgangspunkt ihrer Videos und Skulpturen gemacht. Doch geht der Technikmüll mit Phantasiegebilden, die an Pflanzen oder Pilze erinnern, eine bildschöne Synthese ein. Bei "Neophyte – an industrial opera of plants and pioneers", dem Beitrag von Jana Kerima Stolzer & Lex Rütten, spielen sogenannte Pionierpflanzen die erste Geige. Im Gepäck von Rohstoffen aus aller Welt wanderten die Samen dieser Pflanzen einst in Essen ein und eroberten das Zollverein-Areal. In seiner Multimedia-Oper, deren Gesang durch KI kreiert wurde, vergleicht das Künstlerduo diese vegetative Besiedelung mit der Migration von Menschen.
Die weitreichendste pflanzliche Perspektive entwarf Pınar Yoldaş. Die Architektin, die an der University of California San Diego ein Labor für "Speculative Ecology and BioArchitecture" leitet, verwandelte den Schornstein der Mischanlage in einen "Time Tunnel": Eine Sound- und Laser-Installation beamt uns rund 300 Millionen Jahre zurück: ins Karbonzeitalter, als die Metamorphose von Pflanzen zu Kohle begann. Alle Kunst will Ewigkeit, heißt es oft – Pınar Yoldaş ist verdammt nah dran.