Stell dir vor, du arbeitest als Designer für Nike, es ist 2.20 Uhr in der Früh, und du wirst plötzlich von deinem Smartphone geweckt. "Idee!", steht da auf dem Handy-Bildschirm. Du hast schon wieder eine Textnachricht von Virgil Abloh bekommen, dem gefeierten US-Designer, der seine Geistesblitze am liebsten auf WhatsApp ausformuliert. Abloh diktiert dir nun, welche Farben er sich für die Details eines neuen Nike-Turnschuhs vorstellt.
Seine Anweisungen, die oft mitten in der Nacht eintreffen, sind von einer traumwandlerischen Qualität. Mal möchte er das "Vokabular der Dekonstruktion" auf die Schuhe anwenden, mal erkennt er in ihnen unterschiedliche "Zeitzonen" oder sogar Vorboten der Apokalypse. Im Jahr 2017 hat Virgil Abloh mit großem Brimborium und innerhalb kürzester Zeit eine Kollektion aus zehn Turnschuhen für Nike entworfen, indem er zehn "Ikonen" der Firmengeschichte neu auflegte. Jetzt soll ein im Taschen-Verlag erschienener Bildband beweisen: Das zwischen Abloh und Nike war gar keine Kollaboration, sondern vielmehr ein biblischer Schöpfungsakt.
Der Zeitgeist gibt ihnen recht. In den vergangenen Monaten wurden mit besonderen Sneakern mehrmals Auktionsrekorde erzielt, erst im April wurde die Preismarke von einer Million Dollar durchbrochen. Boutiquen zu Galerien!, lautet Ablohs radikale Forderung, die er mit seinen Entwürfen unterstreicht. Die Seiten der Schuhe hat er mit einer Ortsangabe und Jahreszahl versehen, wie der Wandtext zu einem Kunstwerk. Für den Fall, dass die Sneakers von Außerirdischen gefunden werden, beschriftet er selbst einzelne Materialien wie die "Shoelaces" und den "Foam"; immer in Großbuchstaben und Anführungszeichen, denn natürlich handelt es sich dabei um ironische Selbstzitate.
Sogar der "Swoosh" wird durch die Mangel gedreht
War mit der Aufschrift "Jordan" früher ein Basketballspieler gemeint, so erinnert der Name heute an den Siegeszug einer Schuhlinie, die seit 1985 in 35 verschiedenen Editionen erschien, die amerikanischen Basketballplätze eroberte und den Konkurrenten Converse vom Platz drängte. Steht bei einem anderen Sneaker das Wort "Air" quer über die Seite geschrieben, so mag das heute ein banaler Hinweis auf die Sohlenfüllung sein, doch im Jahr 1978 bedeutete das funkelnde neue Luftkissen eine technische und optische Revolution des Turnschuh-Geschäfts.
Virgil Abloh weiß um dieses Erbe, wenn er die Sneakers seziert und ihr weißes Skelett aufbiegt. Er zeigt gern die Fleischseite des Leders, lässt den Schaum aus den Zungen hervorquellen oder deutet Stiche durch Perforationen an. Sogar der sogenannte "Swoosh", eines der wertvollsten Markenzeichen der Welt, wird bei ihm durch die Mangel gedreht: Das Logo zerbröselt, ragt auf die Sohle über, muss festgenäht oder festgeklebt werden, damit es nicht einfach davonfliegt. Ablohs Kreationen sollen "DIY" wirken, also auf ihre Gemachtheit hinweisen und menschliche Handarbeit erkennen lassen. Ihren Nostalgie-Faktor verdanken sie der ungezügelten Energie von Amateuren und dem Geist der Straße. Auf diese Weise wolle Abloh die Mode- und Designwelt für Jugendliche oder für Außenstehende öffnen, wie er 2019 im Interview mit Momopol sagte. "Mit dem, was du zu Hause hast, könntest du diesen Schuh auch machen", betonte er 2017, an die Normalbevölkerung gerichtet.
"Duchamp ist mein Anwalt"
Spätestens, wenn er sich eine Messias-Rolle auf den Leib schneidert, oder wenn die Firma Nike als Nachfolger der Punk-Bewegung auftritt, muss man ihnen ihre ironischen Anführungszeichen auch mal um die Ohren hauen: "Demokratische" oder "kollektive" Praktiken wie das Sampling und der Remix halten sich bei Nike natürlich in Maßen. Als "Readymade-Skulpturen" solle man die Schuhe würdigen, aber einfach gefunden werden möchten sie nicht. Im März war Nike in den Schlagzeilen, weil der Konzern dem Kunstkollektiv MSCHF gerichtlich untersagte, die satanische Eigenvariante eines Nike-Sneakers zu vertreiben. Dabei kam die Aktion von MSCHF dem Punk-Geist der Siebziger à la Vivienne Westwood eigentlich näher als alles, was Nike herausgebracht hat.
Zum gepflegten Regelbruch, wie die Kreationen von Virgil Abloh ihn betreiben, braucht es mächtige Verbündete – zum Beispiel den französischen Künstler Marcel Duchamp (1887-1968), der hier ebenfalls gleich reklamiert wird. "Duchamp ist mein Anwalt", sagt Abloh über den gesetzlosen Objektkünstler, in dessen Fußstapfen er als Designer gern treten möchte.