Ein solcher Bauherr ist der Traum eines jeden Architekten: Der sieht nämlich in einer Zeitschrift ein paar ungewöhnliche Möbel eines kaum bekannten Architekten, findet sie großartig und beschließt mit seiner Frau, sich die neue Wohnung von ihm ausstatten zu lassen. Rasch freilich wird dem jungen Ehepaar der Widerspruch zwischen dem gutbürgerlichen Mehrfamilienhaus, in dem sie Mieter sind, und ihrer avantgardistischen Einrichtung zu stark. Sie beauftragen den Architekten, eine Villa zu entwerfen und diese komplett nach seinen Vorstellungen zu gestalten – inklusive Geschirr, Teppichen, Vorhängen, bis hin zur Tabakspfeife des Hausherrn und dem Kleid seiner Frau.
Ein Märchen? Nein, in Chemnitz wurde all das wirklich wahr – und ist dort noch heute zu besichtigen. Denn hier ließ sich der erfolgreiche Unternehmer Herbert Esche, 1874 in eben dieser Stadt geboren, der im Familienbetrieb mit der Produktion von Strümpfen ein Vermögen machte, sein eigenes Haus errichten. Es bot ihm und seiner Frau Johanna, den zwei Kindern und den Dienstboten ab 1904 Platz. Für den belgischen, 1863 in Antwerpen geborenen Henry van de Velde war es das erste architektonische Auftragswerk überhaupt. Bis dahin hatte er Malerei studiert und als freier Künstler gearbeitet, ehe ihn die konkreten Umsetzungen seiner Ideen immer stärker zu interessieren begannen.
Deshalb wandte sich van de Velde der Architektur und der angewandten Kunst zu und war bald maßgeblich an der Entwicklung der europäischen Moderne beteiligt. Als Architekt war er Autodidakt, aber als Gestalter ein begnadeter Profi. So konnte er mit seinem Team die Villa Esche als veritables Gesamtkunstwerk entfalten – eine Vision, wie sie später prägend für die universellen Konzeptionen des Bauhauses wurde.
Zwischen Bauherrn und Baumeister bestand eine Freundschaft, van de Velde kam gern vorbei, plante einige Jahre später sogar den Ausbau. Mit dem Zweiten Weltkrieg aber veränderte sich alles. Van de Velde galt den Deutschen als Ausländer, den Belgiern wegen seiner Zeit in Deutschland als der Kollaboration verdächtig. 1957 verstarb er in der Schweiz. Herbert Esche, der seit dem Tod seiner Frau 1911 sehr zurückgezogen gelebt hatte, ging zu seiner Tochter ebenfalls in die Schweiz, wo er 1962 starb.
Von 1945 bis 1947 war seine Villa der Sitz der Sowjetischen Militärkommandantur. Da sie gut geschnitten und relativ wenig beschädigt war, quartierte man danach obdachlose Familien ein. Diese wurden ab 1952 vom Ministerium für Staatssicherheit abgelöst. Durch den Einzug einer Bildungseinrichtung der Bezirkshandwerkskammer bestimmte ab 1964 wieder ein kultureller Schwerpunkt das Haus, das sich nun im kollektiven Gedächtnis etablierte, denn viele Handwerker aus der Gegend absolvierten hier Lehrgänge, Fortbildungen, Meisterprüfungen. Sie haben bis heute ihre persönlichen Erinnerungen an diese Einrichtung und das zugehörige Gebäude. Nach dem Fall der Mauer stand es indes fast acht Jahre lang leer und war dem Verfall preisgegeben. Der Regen drang durch das undichte Dach bis in den Salon im Erdgeschoss ein, das kostbare Parkett wölbte sich auf, der Putz blätterte von den Wänden.
"Es war ein Bild des Jammers", erzählt Andrea Pötzsch, die das Management der Villa Esche leitet. Zuvor hatte sie in der DDR Lateinamerikanistik und Geschichte studiert und war in der Tourismusbranche tätig gewesen. Als das kommunale Wohnungsunternehmen GGG (Grundstücks- und Gebäudewirtschafts-Gesellschaft Chemnitz) 1998 die Villa von den Erben erwarb, war Pötzsch zwar nicht dabei, kennt jedoch seit 2000 die Restaurierungschronik bis in die abgelegensten Details. Am Anfang lief sie noch mit Gummistiefeln über die Baustelle. Mittlerweile freut sie sich über ein kleines Büro im historisch überwältigend rekonstruierten Gebäude.
In Abstimmung mit den Erben war trotz des Verkaufs klar, dass die Villa nicht in die Hand von Immobilienhändlern geraten, sondern denkmalgerecht instandgesetzt und öffentlich genutzt werden sollte. Drei Jahre dauerte die Renovierung unter Leitung des Architekturbüros Werner Wendisch, begleitet von Experten eines eigens berufenen Kunstbeirates und der Denkmalpflege. Als Orientierungshilfe dienten Zeichnungen van de Veldes sowie zahlreiche Fotos, die der begeisterte Hobbyfotograf Herbert Esche,der sich eine private Dunkelkammer gönnte, aufgenommen hatte. Sie haben nur einen Nachteil: Sie dokumentieren die repräsentativen Räumlichkeiten im Erdgeschoss, der Beletage und im ersten Obergeschoss, allerdings kaum die Gästezimmer und Personalbereiche in den oberen Etagen. Und alle Fotos sind natürlich schwarz-weiß.
Es bedurfte intensiver Recherchen, um van de Veldes Farbkonzept nachzuspüren und das Kolorit der Stuckaturen, der Wandbespannungen, der Teppiche zu ermitteln. Manchmal, erzählt Andrea Pötzsch, half der Zufall in Form eines unbeschädigten Stoffrestes hinter einer Fußleiste oder einem Balkenkopf, wo er die Jahrzehnte lichtgeschützt verbracht hatte. Natürlich war einiges vom ursprünglichen Mobiliar verschwunden, vier Türen und zahlreiche Beschläge fehlten, aber vieles fand sich wieder. Lampen konnten nachgebaut, Stoffe nachgewebt werden – meist von im Denkmalschutz versierten Firmen aus der Region. Das Speisezimmer und der Musiksalon sind nahezu originalgetreu möbliert und bilden das Herzstück des ersten Henry van de Velde Museums in Deutschland.
Die anderen Räume werden als Begegnungsstätte und für Veranstaltungen wie Lesungen oder Konzerte genutzt und können für Tagungen oder Bankette gemietet werden. So ist die Villa Esche als elegantes, kultiviertes, raffiniert durchkomponiertes, dabei gänzlich unprotziges Bauwerk zu bewundern. "Entwürfe für das Leben" wollte van de Velde schaffen, nicht einfach nur Häuser bauen. Längst gilt die Villa Esche als einer der architektonischen Höhepunkte der europäischen Henry-van-de-Velde-Route mit Stationen etwa in Gent, Brüssel, Paris, Berlin, Weimar. Sie steht, führt Andrea Pötzsch mit berechtigtem Stolz aus, per se für Weltoffenheit und eine freie geistige Atmosphäre – Henry van de Velde war Europäer und Kosmopolit, die Firma Esche operierte global und hatte Dependancen bis nach Schanghai. So macht die Villa letztlich auch deutlich, dass Chemnitz für einen modernen Geist steht.
Die Bewerbung zur Kulturhauptstadt 2025 wird, davon ist Andrea Pötzsch überzeugt, diese Tradition der Stadt nach vorne spielen und den Prozess einer kritisch-konstruktiven Selbstbefragung fördern: "Wer sind wir? Wer wollen wir sein, wie wollen wir leben? Wie stellen wir uns das Chemnitz der Zukunft vor?" Der Weg ist das Ziel, denn auch wenn eine andere Stadt den Zuschlag erhält, wird sich die Gesellschaft neu orientiert und definiert haben: "Das ist ja keine Initiative von oben, sondern es sollen möglichst viele mitgenommen werden. Für Chemnitz und für sich selbst natürlich."