"I have seen the Future" - einen Button mit dieser Aufschrift erhält jeder Spieler, der gegen Nimrod antritt. Im Berliner Computerspielemuseum kann man das heute noch tun. Nimrod, der aus 480 Vakuumröhren besteht, war im Oktober 1951 der erste elektronische Computer auf deutschem Boden. Das Elektronengehirn war einzig für das Spiel Nim programmiert, bei dem auch Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard damals auf der Berliner Industrieausstellung gegen Nimrod antrat - und dreimal verlor. Bundeskanzler Adenauer stand daneben und lachte sich eins.
Videogame-Ausstellungen waren bisher selten. Warum? Computerspiele sind zunächst ein Angriff auf traditionelle Medien und Künste. Besonders das Kino, ohnehin eine bedrohte Art, wird durch die Entgrenzung im Cyberspace herausgefordert. (Es finden bereits freundliche Übernahmen wie beim interaktiven Netflix-Film "Bandersnatch" statt, eine Fusion von Kino und Computergame.) Einerseits wurzeln die Algorithmen der Videospiele im Erzählkino (haben sie nicht viel mehr mit Agatha-Christie-Filmen als mit Brettspielen zu tun?), andererseits überflügeln sie Spielfilme. Filmdramaturgien sind festgelegt, moderne Spiele interaktiv. Der Gamer kann zwischen mehreren Optionen wählen, fährt sozusagen seinen eigenen Film.
Weil sie so komplex sind, lassen sich Videospiele schwer ausstellen. Sonst könnte man ein Automatencasino zum Museum machen. Nein, wer den Homo ludens im Cyberspace zum Ausstellungsgegenstand macht, muss Schneisen ins Thema schlagen. Das Computerspielemuseum in der Karl-Marx-Allee beschränkt sich auf die Technikgeschichte des Videogaming und punktet mit der beachtlichen Zahl von 300 Exponaten. Zwischen 2002 und 2013 tourte eine Wanderausstellung der Londoner Barbican Art Gallery um die Welt: "Game On", die mit "Game On 2.0" fortgesetzt wurde, konzentrierte sich auf den kulturellen Einfluss von Computerspielen und Spielkonsolen.
In deutsche Museen haben es die "Game On"-Schauen bisher nicht geschafft. Dafür prescht das Schwule Museum in Berlin nun mit der Ausstellung "Rainbow Arcade" vor, in der die queere Videospielgeschichte seit 1985 verfolgt wird. Der Blick auf das Gaming durch die LGBTQ-Brille erfordert zwangsläufig, dass man die Ästhetik von Videospielen insbesondere des Mainstreams kritisch beleuchtet.
Den Aspekt des Spiels als Möglichkeitsraum und sogar künstlerische Ausdrucksform - und weniger als technische Kreation - verfolgt die Londoner Ausstellung "Videogames: Design/Play/Disrupt" intensiv. Im Victora & Albert Museum (V&A) wird der zeitliche Rahmen eng gesteckt. Acht Spiele aus den vergangenen 15 Jahren stehen im Fokus. Spielernaturen, denen es in den Fingern juckt, werden von den Joysticks ferngehalten, denn die Genese der unterschiedlichen Formate steht klar im Vordergrund. Neben Bildern und Clips aus den Spielen geben Notizbücher, Fotos, Storyboards und Skizzen Einblicke in die Entstehungsprozesse der verschiedenen Gameformate. Der Parcours beginnt mit "Journey", 2012 vom Independent-Entwickler thatgamecompany herausgebracht. Der Spieler schlüpft in einen mysteriösen Avatar, der auf einer Reise durch spektakuläre Landschaften mit weiteren online dazugeschalteten Mitspielern mittels Tönen und Bewegungen kommuniziert.
"League of Legends" (Riot Games) ist das wohl extensivste Multiplayer-Game, in dem seit Erscheinen 2009 bis zu 100 Millionen Spieler monatlich aktiv sind. Auf einer Großleinwand im V&A sind Szenen des "League of Legends" World Championship im vollbesetzten Nationalstadion von Peking zu sehen. Cyber- und Realraum verflechten sich – ein eindringliches, aber auch bedenkliches Bild der Digitalisierung. Einen Ausweg aus dem Cyberspace weist "Hit Me!" (Kaho Abe, 2005/2011), bei dem zwei Spieler ganz physisch aufeinander losgehen. Es gilt, den Knopf auf dem Helm des Kontrahenten zu treffen. "Hit Me!" gehört zur Szene der DIY (Do it yourself) arcade club nights. Dass Videospiele einsam machen, bleibt eine ernsthafte Gefahr. Aber insbesondere der letzte, der Punk-Fraktion der Gamer gewidmete V&A-Raum lässt vermuten, dass User nicht unbedingt passive Wesen sind.
Zu den interessantesten Spielen der Londoner Ausstellung zählt "Kentucky Route Zero" (Cardboard Computer, 2013), ein Abenteuerspiel, für das die unterschiedlichsten Quellen angezapft wurden. Im V&A wird offengelegt, was "Kentucky" der Schlöndorff-Verfilmung von Arthur Millers "Tod eines Handlungsreisenden", Michael Snows Experimentalfilm "Wavelength" von 1967 oder dem Vexierspiel eines René-Magritte-Gemäldes aus den 60ern verdankt.
2006 veröffentlichte das unabhängige Duo Tale of Tales ihr "Realtime Art Manifesto", ein Vorstoß, das Computerspiel als künstlerisches Medium zu etablieren. Auriea Harvey und Michaël Samyn arbeiteten Thesen wie "Realtime 3D is a medium for artistic expression", "Embed the user in the environment", "Embrace technology", "Develop a punk economy" heraus. Vier Jahre später veröffentlichte das belgische Duo das (in Form und Inhalt) existenzialistische Videospiel "The Graveyard": der Spieler steuert eine alte Dame, die über einen Friedhof wandert, um sich auf einer Bank auszuruhen. Am Ende des Spiels verlässt die Frau den Ort - oder sie stirbt auf der Sitzbank.
Pippin Barrs "A Series of Gunshots" (2015), ebenso ein Meta-Spiel, ist in die "Disrupt"-Abteilung der V&A-Schau eingebettet. In diesem Segment wird die Spielkultur auf Gewaltexzesse, Rassismus, Sexismus abgeklopft. Man konnte sich denken, dass der Cyberspace nicht die beste aller Welten darstellt. Entwickler, Fachleute und Kritiker kommen in Videos zu Wort, um sich mit Spiel-politischen Missständen und den Mitteln dagegen zu befassen.
Ortswechsel. Die Ausstellung zum queeren Videospiel im Schwulen Museum vertieft die Londoner Schau. "Rainbow Arcade" ist in farbige Abschnitte gegliedert, schlägt quasi einen Regenbogen über 33 Jahre LGBTQ-gerechter Inhalte in Spielen. Fan Art, Memorabilien, Screenshots und Videointerviews mit Designern sorgen für eine gewisse Anschaulichkeit. Doch trotz der Regenbogenfarben: die Präsentation ist insgesamt zu textlastig, als wollte sie Ausstellung und Katalog zugleich sein. Das tatsächlich geplante Begleitbuch hängt vom Ausgang einer Crowdfunding-Kampagne auf Kickstarter ab, man kann nur hoffen, dass die Publikation irgendwann auch erscheint.
Immerhin zeigt die Berliner Ausstellung eindrucksvoll, wie reich an queeren Inhalten die jüngere Gaming-Geschichte ist. Als rein militärisch geprägte Videospiel-Figuren in den 80ern dank japanischer Manga-Einflüsse durch schillernde Charakteroptionen bereichert wurden, schlug die Stunde von Figuren wie Nintendos Birdo, ein Junge, der denkt, dass er ein Mädchen ist. Neue Spiele wie Robert Yangs "Radiator" sind offen schwul - dort gibt sich ein homosexuelles Auto erotischen Träumereien hin. Die interessantesten Titel finden sich im gelb gestrichenen Independent-Bereich der Schau, darunter das textbasierte "Love at the End of the World" um Intimität und Apokalypse oder das queere Knetfiguren-Musical "Dominique Pamplemousse".
Abweichend zu London bietet die Berliner Gaming-Schau ein breiteres Angebot an spielbaren Titeln. So wurde "Caper in the Castro" von 1989 - ein in der berühmten queeren Castro Street in San Francisco siedelndes Detektivspiel um das Verschwinden der Dragqueen Tessy LaFemme - wiederentdeckt und für das Schwule Museum wieder aktiviert. Empfehlenswert - ab 16 - ist das lustige Geschicklichkeitsspiel "Freelives' Genital Jousting", in dem man versuchen muss, eine Schar triebgesteuerter Phalli in gewisse Öffnungen zu manövrieren. Wenn jede Gaming-Ausstellung einen "Blick in die Zukunft" schenkt, wie ihn schon Nimrod versprach, schaut man hier hoffentlich nicht in die Zukunft des Sex - der offline einfach mehr Spaß macht.