Filmfestspiele in Venedig

Ein Favoritensieg und wenig Experimente

Der Goldene Löwe der Filmfestspiele von Venedig geht an Yorgos Lanthimos' Frankenstein-Märchen "Poor Things" mit Emma Stone. Es war ein verdienter und erwarteter Sieg, der ein gutes, aber kein herausragendes Festival krönte

Boris Karloff hat ernsthafte Konkurrenz bekommen. Wie Emma Stone als monströses Geschöpf eines Dr. Frankenstein (hier Dr. Baxter, gespielt von Willem Dafoe) zuerst linkisch in der Gegend herumstakst, wie sie sich gierig wie unmanierlich das Essen hereinstopft und Kinnhaken an männliche Besucher der Londoner Villa ihres Schöpfers austeilt: Bellas Energie scheint unzähmbar.

Am Ende dieser zweieinhalbstündigen Perfomance ist aus Stones Bella Baxter – der Homunculus einer Ertrunkenen, der das Gehirn ihres ungeborenen Babys eingesetzt wurde – eine weltgewandte, unabhängige Frau geworden. "Poor Things" ist ein filmischer Entwicklungsroman, der nicht zuletzt dank Emma Stones Darstellungskunst prächtig funktioniert. Ein Triumph auch für den griechischen Regisseur Yorgos Lanthimos, dessen Vorgängerfilm "The Favorite" 2018 in Venedig schon zweifach ausgezeichnet wurde.

"Poor Things", der Siegerfilm der 80. "Mostra", verbindet eine Story um weibliches Empowerment (die, nun ja, MeToo-Vorgeschichte der suizidalen Bella wird im Finale enthüllt) mit einem opulenten, im 19. Jahrhundert angesiedelten Spektakel: einer Reise der Hauptfigur nach Lissabon, Nordafrika und Paris, in der Bella die schrecklichen und die schönen Seiten des Lebens kennenlernt.

Weitgehend stimmige Entscheidungen

Karloffs Monster in dem "Frankenstein"-Klassiker von 1931, das ziemlich bald der Feuertod ereilt, war Bellas Reifungsprozess nicht vergönnt. Da sich auch Alasdair Gray, der Autor der Buchvorlage aus den frühen 1990ern, auf Mary Shelleys bahnbrechenden Roman berief, ist "Poor Things" vielleicht sogar die adäquatere "Frankenstein"-Verfilmung. Zumal Shelleys historische Leistung als Schriftstellerin in einem patriarchalen Umfeld mitreflektiert wird.

Lanthimos' Werk war kein Überraschungssieg: Der Film galt auch unter Kritikerinnen und Kritikern als Festspiel-Favorit. Weitgehend stimmig auch die weiteren Preisentscheidungen der Jury, der Damien Chazelle vorstand. Neben dem US-amerikanisch-französischen Regisseur gehörten noch Filmschaffende wie Mia Hansen-Løve, Jane Campion, Laura Poitras und Martin McDonagh dem Gremium an.

Sehr nachvollziehbar auch die Preise für "Io Capitano" von Matteo Garrone (beste Regie) und für "The Green Border" von Agnieszka Holland (Spezialpreis der Jury). Beide Filme setzen sich mit Flüchtlingsschicksalen auseinander. Hollands Film ist ein sehr bedrückendes, realistisches Schwarzweiß-Drama um Flüchtende aus Syrien, Afghanistan und anderen Ländern, die Opfer von Pushbacks zwischen Polen und Belarus werden. Für kleine Hoffnungsschimmer sorgt eine polnische Aktivistengruppe, der sich eine Psychologin anschließt. Gemeinsam können die freiwilligen Helfer die Not verzweifelter Menschen lindern – in allzuvielen Fällen kommen sie jedoch zu spät.

Der Preis der Frau für ihre Liebe

Garrones "Io Capitano" (zu deutsch etwa: Ich, der Kapitän) war der mit Abstand überzeugendste Film aus italienischer Produktion. Bis noch auf "Lubo", Giorgio Dirittis mit Franz Rogowski fantastisch besetztem Drama um einen jenischen Nomanden, der im Zweiten Weltkrieg seine verschollenen Kinder sucht, zeigten die italienischen Wettbewerbsfilme nur Mittelmaß. Wie Agnieszka Holland erzählt auch Giorgio Diritti von der Flucht nach Europa.

In "Io Capitano" geht es wiederum um zwei junge Senegalesen, die zu einer Odyssee durch die Sahara und das Mittelmeer nach Italien aufbrechen. Die Härte des Themas wird, anders als bei "Green Border" durch Fiktionalisierung gemildert, Traumsequenzen und märchenhafte Elemente machen die letztlich trostlose Ausgangssituation erträglich. Als bester junger Darsteller des Festivals wurde zusätzlich Seydou Sarr ausgezeichnet, der Hauptdarsteller des Films, dessen Figur sich schließlich am Steuer eines Flüchtlingsschiffs im Mittelmeer bewähren muss.

Es gab viele bemerkenswerte darstellerische Leistungen im diesjährigen "Mostra"-Wettbewerb. Insofern lässt sich über die Juryentscheidungen für die beiden "Coppa Volpi" auch diesmal streiten. Cailee Spaeny bekam einen Preis für ihre Verkörperung der Titelfigur in "Priscilla", Sofia Coppolas Biopic um die Ehefrau von Elvis Presley. Die Auszeichnung ist nachvollziehbar. Denn mit verhaltener Intensität zeigt Spaeny, welchen Preis die Frau für ihre Liebe zu zahlen hatte, die stets im Schatten des Superstars stand.

Eine eindringliche Reflexion über ein Leben im Einklang mit der Natur

In Michel Francos starkem Familienmelodram "Memory" fesselte Peter Sarsgaards Darstellung eines dementen Mannes, der eine Liebesbeziehung mit einer Sozialarbeiterin (ebenso großartig: Jessica Chastain) beginnt. Auch diese Entscheidung mag einige Beobachter angesichts vieler schauspielerischer Glanzleistungen in Venedig überrascht haben – der Preis für Sarsgaard ist aber definitiv verdient.

Mit dem Großen Preis der Jury wurde "Evil Does Not Exist" von Ryusuke Hamaguchi ausgezeichnet. Als einer der wenigen Filmemacher (außer in kleinen Dosen Bertrand Bonello, dessen Henry-James-Adaption "La Bête" leider leer ausging) packte der Japaner ein ökologisches Thema an.

Unweit von Tokio setzt sich eine ländliche Gemeinde gegen ein fragwürdiges Tourismusprojekt zur Wehr. Ihre "Gegner" sind zwei Mitarbeitende einer Tokioter Agentur, die das mutmaßlich umweltschädliche Projekt nur halbherzig vertreten, nach Außen aber Loyalität gegenüber ihrem Arbeitgeber demonstrieren müssen. Eine eindringliche, doch sanfte Reflexion über ein Leben im Einklang mit der Natur und die Kräfte, die diese Balance bedrohen – und tatsächlich ein Glanzpunkt eines guten, wenn auch nicht herausragenden Venedig-Jahrgangs.

Ein bisschen mehr Wagnis, bitte

Die meisten Filme im Wettbewerb waren engagierte, schlüssig erzählte Werke. Was fehlte, war das künstlerische Wagnis. Ein wenig mehr Experiment hätte gutgetan. Dem einzigen deutschen Wettbewerbsfilm, Timm Krögers "Die Theorie von Allem", hätte man einen Preis gegönnt: In seiner Bildmächtigkeit und in der Spannungsdramaturgie punktete der in der Schweizer Bergwelt angesiedelte Thriller um das Multiversums-Thema mit einem Formen- und Ideenreichtum, den man sonst im Wettbewerb eher vermisste.

Als fesselndes Vexierspiel voller filmhistorischer Zitate über Identität und Täuschung faszinierte Krögers zweiter Spielfilm – auch wenn die Geschichte es an inhaltlicher Triftigkeit fehlen ließ. Die historischen Bezüge zum Zweiten Weltkrieg und zum Holocaust liefen doch sehr ins Leere. Dennoch: Wenn "Die Theorie von Allem" ins Kino kommt (26. Oktober), sollte man ihn unbedingt ansehen.

 

Die Preise der 80. Filmfestspiele Venedig im Überblick
 

Goldener Löwe: "Poor Things" von Yorgos Lanthimos

Großer Preis der Jury: "Evil Does Not Exist" von Ryusuke Hamaguchi

Beste Regie: Matteo Garrone für "Io Capitano"

Spezialpreis der Jury: "The Green Border" von Agnieszka Holland

Bestes Drehbuch: Guillermo Calderón und Pablo Larraín für "El Conde"

Beste Schauspielerin: Cailee Spaeny für "Priscilla"

Bester Schauspieler: Peter Sarsgaard für "Memory"

Best Young Actor Award: Seydou Sarr für "Io Capitano"