Ein Gedanke drängt sich beim Betrachten der Bilder auf, die Peter Bialobrzeski an fünf Tagen im April 2021 von der Mittelstadt Unna (Einwohner: rund 59.000) im östlichen Ruhrgebiet gemacht hat; mit ihren Fachwerkhäuschen und Fußgängerzonen, Nach- und Vorkriegsbauten, Volksbanken- und Einfamilienhausarchitekturen. Wie würde sie wohl eine Bewohnerin, ein Bewohner aus Wuhan, Minsk, Taipeh, Osaka, Dhaka oder George Town wahrnehmen?
Dort nämlich machte der Dokumentarfotograf zuvor bereits Station für seine "Diaries": Bilderreihen mit kleinen Textnotizen, die in jeweils mehreren Tagen vor Ort angefertigt werden. Es sind fotografische Tagebücher, die auf eine Quintessenz der gebauten Umwelt abzuzielen scheinen. Subjektiv, natürlich, aber frei vom anekdotischen Erzählen, das primär die skurrilen Momente, die Ausnahmen und das Herausstechende sucht – wie es so ein Fotobuch über die westdeutsche BRD, Hellweg, die Schnittmenge aus Provinz und benachbarter Metropolregion ja sehr unterhaltsam aufgreifen könnte.
Peter Bialobrzeskis "Unna Diary" ist aber nun gerade kein Exotismus. Deshalb wäre es interessant zu hören, was Menschen aus anderen Teilen der Welt über diese Bilder denken. Ob sie sich einen realen Ort darunter vorstellen können, zum Beispiel. Wie man umgekehrt auch in Bialobrzeskis Fotografien südostasiatischer Metropolen reale Orte zu erkennen meint und keine Folien vorab festgelegter Vorstellungen. (Dann wäre aber erst recht interessant zu erfahren, was die Unnaer selbst über Bialobrzeskis Fotografien denken. Ob ihnen das Lokalkolorit fehlt, oder ob sie es gerade hierin erkennen können.)
Obwohl solcherlei anekdotischen Bezüge, wie auch größtenteils Menschen, bildnerisch fehlen, erscheint "Unna Diary" auf seltsame Weise völlig unaufgeregt vertraut. Man kommt nicht umhin, immer wieder festzustellen: Ja, so sieht sie wohl aus, die Stadt. Oder ihre Grundidee? Der Himmel ist überwiegend farblos auf diesen Bildern. Die Gebäude, Straßen, Geschäfte dieser grundbodenständigen Stadt schweben ein wenig über die Seiten: "50 Shades of Grey" in Unna.
"American Beauty" in der Durchschnittsstadt
Einen zeitlichen und örtlichen Rahmen erhält der Band durch eine schmal bedruckte Doppelseite, die den Fotografien vorangestellt wurde. Peter Bialobrzeski war vom 11. bis zum 16. April in Unna, jeden Tag notierte er einige kurze Beobachtungen: Wieder ein Höhepunkt der Pandemie, Menschen müssen jetzt selbst auf der Straße Maske tragen, was dem Fotografen ebenso absurd vorkommt wie der berühmte Laubbläser, der einige Tage später "American Beauty"-mäßig eine weiße Plastiktüte durch die Fußgängerzone fliegen lässt.
Bialobrzeski zieht mit einem Kenner der Stadt durch die Straßen, besucht Cafés und eine Brauerei, lässt sich von einem Künstlerpaar einladen. Überhaupt spiele die Kunst eine veritable Rolle in der Stadt, beobachtet der Fotograf. Mit sanftem Spott zeigt er außerdem am Beispiel eines Coronatest-Ergebnisses, wie nicht einmal einfachste Dinge im Land digital funktionieren. Schließlich liest Bialobrzeski noch akademisch verbrieft von den zahlreichen Eseln, die sich historisch im Stadtgebiet befanden und die den Bewohnerinnen und Bewohnern den Namen "Unna Esel" eingetragen haben sollen (was, so ähnlich, übrigens auch in anderen Städten der Region vorkam).
Es sind beinahe Gegenentwürfe zu Peter Bialobrzeskis Bildern, die ja ganz ohne solche konkreten Erzählungen auskommen, aber vielleicht stecken sie unausgesprochen trotzdem darin. Die konzentrierte Form jedenfalls eint dann wieder Text und Bilder. Der Künstler vertraut darauf, dass es nicht mehr braucht. So wie hier wurde die westdeutsche Durchschnittsstadt wohl tatsächlich noch nicht porträtiert.