Kolumne

Ungelegte Eier (1)

Über ungelegte Eier spricht man nicht – was eigentlich schade ist. Einmal im Monat lädt der neue Monopol-Kolumnist Friedrich von Borries deshalb Künstler, Architekten, Designer und andere interessante Menschen zum Mittagessen ein, um gemeinsam über Unfertiges zu sprechen – und im Idealfall gemeinsam etwas Neues auszubrüten. Den Auftakt machen die Gäste Armen Avanessian, Wilfried Kühn, Claudia Langer, Marie-France Rafael und Karin Sander 

Mich interessiert im Moment Unfertiges mehr als das Perfekte. Deshalb ungelegte Eier. Jetzt sitze ich vor 18 Seiten Notizen, und weiß nicht, wo ich anfangen und wo ich aufhören soll. Also vielleicht einfach der Reihe nach. Zum Auftakt am vergangenen Sonntag hatte ich fünf Leute eingeladen: Armen Avanessian, Philosoph, Wilfried Kühn, Architekt, Claudia Langer, Aktivistin, Marie-France Rafael, Kunstwissenschaftlerin, und Karin Sander, Künstlerin. Das Konzept: Ich koche, alle anderen bringen ein ungelegtes Ei mit. Als es an der Tür klingelte, war ich schon etwas aufgeregt. Aber der Tisch war gedeckt und das Essen fertig. Und etwas Ei hatte ich auch in jeden Gang geschmuggelt. Es konnte also losgehen.

Armen Avanessian verkündete, dass er dauernd ungelegte Eier mit sich rumträgt, nämlich zwischen 27 und 122 ungeschriebene Texte. Dafür, dass er sich besonders für die Produktion von Theorie interessiert, also, wie er sagte, den "Eilegungsprozess", hatte er dann doch ein sehr konkretes Ei dabei. Er erzählte von einem seiner nächsten Projekte. Zusammen mit Ari Benjamin Meyers arbeitet er an einer Oper, die sich unter anderem mit dem 50-jährigen Jubiläum des Busenattentats auf Theodor W. Adorno auseinandersetzt – also der Frage, ob die nackten Brüste der protestierenden Studentinnen für seine todbringenden Herzinfarkt mitverantwortlich waren. Armen Avanessians Opernprojekt ist doppelt ungelegt: Es ist ungelegt, weil er noch daran arbeitet, und es bleibt ungelegt oder im Dauerbrütezustand, weil der Forschungs- und Entstehungsprozess der Oper als performative Handlung öffentlich machen will – zum Beispiel am 29. April in der Berliner Volksbühne.

Marie-France Rafael hatte auch ein schönes Ei dabei. Als Kunstwissenschaftlerin interessiert sie sich für Ausstellungsformate, und als junge Mutter stellt sie sich die Frage, wie man Kunstausstellungen so konzipiert, dass sie sowohl für Kinder als auch für Erwachsene interessant sind und jeweils unterschiedliche Narrative entfalten. Eine Ausstellung, die von Kindern ganz anders erlebt werden könnte als von Erwachsenen, würde zum Beispiel mit Größenunterschieden spielen – wie der schweizerische Beitrag zur Architekturbiennale in Venedig 2018 –, würde Stofftiere von Mike Kelley oder auch die fliegenden Fische von Philippe Parreno zeigen, die letztes Jahr im Gropius-Bau in Berlin zu sehen waren. Dieses Ei fanden alle sofort nachvollziehbar. Nur leider war kein Museumsmensch am Tisch, der gesagt hat: "Super, das machen wir!" Vielleicht das nächste Mal.

Karin Sander, deren Gebrauchsbilder ich wegen ihrer vorsätzlichen Unfertigkeit so sehr schätze, hatte ebenfalls ein Ausstellung-Ei dabei. Sie kuratiert gemeinsam mit Harald Welzer gerade die Schau "Telling Art and Futures" in der Berliner Akademie der Künste, und hat die Sorge, dass die Arbeiten, die sie zeigen wollen, so utopisch sind, dass man sie gar nicht ausstellen kann. Zum Glück war Karin Sander ein paar Stunden später schon wieder optimistischer, Sie schrieb mir, dass einige tolle Sachen stattfinden werden, zum Beispiel das Konzert "Music for Future Images" zur Eröffnung am 28. April.

Vielleicht war die Rückkehr ihres Optimismus ein Verdienst von Wilfried Kühn. "Kriseneier gehören dazu", so sein Mantra, erst wenn es ausweglos erscheint, wird ein Projekt spannend. Wobei er gut reden hatte, als Architekt war er die Legehenne unter meinen Gästen. Architekten wie er, so seine Selbstbeschreibung, sitzen eigentlich andauernd über ungelegten Eiern – die aber nie ganz ausgebrütet werden. Denn Architekten sind professionelle Tagträumer, bei denen 80 Prozent aller Ideen nicht realisiert werden. Er hatte ein sehr privates ungelegtes Ei mit dabei. Zusammen mit der Künstlerin Milica Tomić will er auf einer kroatischen Insel eine Ruine, ein Steinhaus aus dem 18. Jahrhundert, originalgetreu wiederherstellen. Wobei originalgetreu heißt: mit den Techniken des 18. Jahrhunderts. Etwas ähnliches hatten sie für den Programmwettbewerb für die Berliner Bauakademie vorgeschlagen, ein leeres Haus als Rekonstruktion nach den technischen Möglichkeiten von 1836 – schließlich hieß das Motto der Ausschreibung "Soviel Schinkel wie möglich". Leider gab es für den Beitrag von Kühn und Tomić nur einen Trostpreis.

Claudia Langer, frühere Initiatorin der Nachhaltigkeitsplattform Utopia.de und Gründerin der Generationenstiftung, hatte das dickste Ei am Start. Sie kämpft für eine bessere Welt, ihr geht es um die Zukunft der nächsten Genrationen, und damit um die Frage: Wie kann man den Kapitalismus reformieren, revolutionieren oder überwinden? Worüber, wie man sich gut vorstellen kann, eine große Diskussion entfachte, unter anderem, weil es hier zum Beispiel unerwartete Querbezüge zum Lebensstandard des18. Jahrhunderts gab.

Und dann haben wir noch über ganz viel anderes geredet. Über Religion und über ausgestopfte Pferde, über Wien und natürlich über das Ei des Columbus. Und was haben wir gelernt? Das Ei hat eine Teleologie, denn es will irgendwann Hühnchen werden (zumindest das Hühnerei). Das Ei, das uns in dieser Runde aber am meisten interessiert hat, ist das Ei, dessen Zwischenzustand zum Dauerzustand geworden ist: das unlösbare Ei, das gar nicht fertig werden will, damit man weiter darüber diskutieren kann.