Es ist gut möglich, dass Ulrike Ottingers Ausstellung "25 Filme – Screening the Archive" in der Charlottenburger Galerie Contemporary Fine Arts (CFA) für einige Besucherinnen und Besucher die erste Begegnung mit der 1942 in Konstanz geborenen Avantgarde-Filmemacherin, Fotografin und Malerin darstellt. Und das, obwohl ihr dieses Jahr der Deutsche Dokumentarfilm-Ehrenpreis für ihr Lebenswerk verliehen wurde.
Dies hat durchaus etwas Positives. Wie oft hört man eingefleischte Fans eines Films, einer Künstlerin oder eines Musikers in der Fantasie schwelgen, ihre Helden noch einmal ganz neu zu entdecken und die Aufregung der ersten Begegnung erneut erleben zu können. Ein Ausflug zu CFA macht das Neu- oder Wiederentdecken von Ottingers Werk nun möglich.
Die Ausstellung fokussiert sich auf deren Berlin-Trilogie, mit der sie internationale Bekanntheit erlangte: "Bildnis einer Trinkerin" (1979), "Freak Orlando" (1981) und "Dorian Gray im Spiegel der Boulevardpresse" (1984). Zu sehen sind Stills und Fotografien, die im Kontext der Filme aufgenommen wurden, sowie begleitende Materialien wie Drehbücher, Presseartikel und Requisiten.
Grundstein für die Erkundung
Beim Betreten der Räume fällt als Erstes die wandfüllende Arbeit "Freak Orlando – Bilderpartitur" (1979-1981) ins Auge. Entstanden im Kontext des gleichnamigen Films, besteht sie aus 114 Einzelfotos – heute würde man die Zusammenstellung als moodboard bezeichnen. Aufnahmen von Schauplätzen, Zeichnungen und Fotografien von Menschen mit körperlichen Fehlbildungen und aus dem kolonialen Kontext, sowie Bildausschnitte des Films ergeben den Eindruck einer wissenschaftlich-historischen Auseinandersetzung.
Verstärkt wird diese Wirkung durch den Schaukasten vor der Arbeit, der Drehbücher und weitere Recherchematerialien zeigt. Die genaue Natur der Forschungsarbeit erschließt sich auf den ersten Blick nicht, doch die aufgeworfenen Fragen legen den Grundstein für die weitere Erkundung der Ausstellung.
An der gegenüberliegenden Wand findet sich das überlebensgroße Filmstill "Der Bote der Inquisition begegnet den Häschern" (1981) aus "Freak Orlando". Die schwarz-weiße Fotografie zeigt einen in der Mitte der Komposition stehenden kleinwüchsigen Mann, welcher dem Publikum den Rücken zuwendet. Er ist unbekleidet und von Kopf bis Fuß mit schwarzer und weißer Farbe überzogen. Diese bildet dasselbe Muster, wie es die von ihm geführte gescheckte Dogge trägt. Die beiden sind umringt von maskierten, in Ganzkörper-Ledermontur uniformierten Männern, die auf die Betrachtenden zuschreiten.
Eine Welt voller Metapher
Während der Anblick eines solchen Trupps in den meisten Fällen bedrohlich wirken würde, überwiegt hier die Skurrilität. Das Studieren der Szene gleicht dem Versuch, einen Traum zu entschlüsseln, der nach dem Erwachen plötzlich so abwegig erscheint, dass man sich fragt, wie das eigene Unterbewusstsein so etwas hervorbringen konnte.
An den restlichen Wänden finden sich weitere Fotografien und Filmstills. Unter anderem das großes Diptychon "Distortion - Verzerrungsstudien mit Magdalena Montezuma, Berlin" (1981), das an die surrealistische Fotografie von Man Ray erinnert, und das Porträt "Femme Tronc" (1981), einer Darstellerin aus "Freak Orlando", deren Körper nur aus Kopf und Torso besteht. Sie sitzt auf einer Art Sockel, mit Krone und königlicher Robe bekleidet. In warmes Licht getaucht, schaut die Frau zufrieden lächelnd auf etwas außerhalb des uns gezeigten Bildausschnitts.
Spätestens jetzt ist klar: Die Welt von Ulrike Ottinger ist eine fantastische, eine Welt voll von Metaphern und vielschichtigen Bedeutungen. Der surrealistische Charakter entfaltet gerade dadurch seine Wirkung, dass bei Betrachtung der fotografischen Werke, die auch heute noch die Idee von der Abbildung einer physischen Wirklichkeit implizieren, nie ganz klar ist, ob es sich nun um dokumentarische oder fiktive Bilder handelt.
Es wird getanzt, geschrien, salutiert und Eis gegessen
Schnell stellt sich die Frage der tieferen Bedeutung der beiden Begriffe – Realität und Fiktion. Besteht unser Leben nicht aus Geschichten, die uns die Welt erklären? Gesellschaftliche Konventionen, Spiritualität, die eigene Weltanschauung – Geschichten so groß, dass sie nicht mehr als solche wahrgenommen werden. Doch erst sie machen uns das Leben verständlich und liefern die Bewertungskriterien für das, was "normal" ist, also innerhalb der persönlichen oder gesellschaftlichen Norm liegt. Ist uns die Geschichte einer Begebenheit nicht bekannt, oder steht sie im Gegensatz zum vertrauten Narrativ, erscheint sie schnell sonderbar und trifft auf Unverständnis.
Im hinteren Raum der Ausstellung verstärkt sich die Infragestellung dieser Dichotomie aus bekannten und unbekannten Geschichten. Eine Wand zeigt weitere, surrealistisch anmutende Filmstills, hauptsächlich aus "Freak Orlando". Zu sehen sind beispielsweise Hühner mit Babyköpfen, ein konspiratives Treffen im Schwimmbad, ein "Narzisstischer Hermaphrodit in Begleitung eines Zwerges und einer Bartfrau" (1981).
Gegenüber wird eine andere Seite der Künstlerin gezeigt. Fotos, die an Mode-Editorials erinnern, zeigen unter anderem die Schauspielerinnen Tabea Blumenschein und Magdalena Montezuma sowie den Künstler Martin Kippenberger. Sie alle treten auch in Filmen der Berlin-Trilogie auf. Es wird getanzt, geschrien, salutiert und Eis gegessen. Im Gegensatz zu den deutlich inszenierten Bildern der restlichen Ausstellung erscheinen die hier gezeigten Aufnahmen spontan und intim. Sie zeigen ihre Protagonistinnen und Protagonisten in einer uns vertrauteren, weniger metaphorischen Darstellung, aber sind sie deshalb auch authentischer?
Die Wahl zum "Hässlichsten des Jahres"
Aus der Abfolge dieser Bilder sticht eine Serie mit Montezuma heraus. Diese zeigt sie in etwas gekleidet, das wie ein Fetischoutfit scheint, mit Ganzkörper-Latexanzug und Maske. Dazu ist sie großzügig mit einer Art Kabel umwickelt. Die Ähnlichkeit ihres Aufzugs mit dem der Gruppe von Männern im ersten Raum schlägt eine Brücke zwischen den verschiedenen "Welten" der Ausstellung - und der Frage nach Realität, Fiktion und "Normalität".
Ottingers Berlin-Trilogie, in die wir hier einen Einblick erhalten, ist eine vielschichtige Untersuchung gesellschaftlicher Phänomene, an manchen Stellen sehr direkt Stellung beziehend, an anderen sehr deutungsoffen. Sie macht bewusst, wie sehr die Betrachtung unserer Welt vom eigenen Standpunkt und der damit einhergehenden Narrative abhängig ist.
Einer der bezeichnenden Momente ist das Finale von "Freak Orlando". Eine kleine, diverse Gruppe hat sich zusammengefunden, um das alljährliche "Festival der Hässlichen" zu feiern und an der damit einhergehenden "Wahl des Hässlichsten des Jahres" teilzunehmen. Es partizipieren unter anderem blinde Männer auf Krücken und Grimassenschneider. Die Jury ist sich aber sofort einig, einen mit Anzug und Aktentasche bekleideten Mann zum Sieger zu küren, der sich nur zufällig auf die Bühne der Veranstaltung verirrt hat. Wie sich herausstellt, ist er Vertreter für Psychopharmaka auf der Durchreise.
Die Bilder können mühelos allein stehen
Natürlich kann eine Ausstellung der Filmemacherin, in der fast ausschließlich Fotografie, Stills und Requisiten gezeigt werden, der vielen Facetten ihres Werks nicht in voller Tiefe gerecht werden. Ihre insgesamt 27 Produktionen umfassendes Oeuvre (eine weitere ist für nächstes Jahr in Planung) reicht von avantgardistischen Spielfilmen bis zu Dokumentationen mit Fokus auf der ethnografischen Untersuchung von aus westlichem Standpunkt oft unbekannten Gesellschaften, beispielsweise in China oder der Mongolei.
Die hier gezeigten Arbeiten schaffen es aber mühelos, allein zu stehen und ihre individuelle Kraft zu entfalten, während sie gleichzeitig die Komplexität von Ottingers Arbeit präsentieren. Und im Optimalfall eine tiefergehende Auseinandersetzung anregen.