Die Neue Nationalgalerie, ein Maßstab setzender Berliner Museumsbau von Ludwig Mies van der Rohe, wurde 1968 eingeweiht. Im selben Jahr fertigte der deutsche Bildhauer Ulrich Rückriem seine erste Steinskulptur. Beide Daten sind nur bedingt aufeinander bezogen. Erst drei Jahrzehnte später wird eine Parallele sichtbar. Rückriem erhält 1998 in Berlin den renommierten, hochdotierten Piepenbrock-Preis für Skulptur und entschließt sich, dem Mies'schen Gebäude ein vielteiliges Werk zu widmen, das bis heute als sein Chef d’oeuvre gilt.
In einem Steinbruch nahe Vire in der Normandie wurden nach Angaben des Künstlers 40 Platten in den Maßen von 120 x 120 Zentimetern aus der Wand geschnitten. Die Stärke der Steine aus dem leicht bläulich schimmernden Granit bleu de Vire variiert zwischen 15 und 22 Zentimetern. Während die Unterseite und die Kanten durch den Zuschnitt jeweils glatt sind, bleibt die Oberseite unbearbeitet. Sie zeigt die von Exemplar zu Exemplar leicht changierende raue Kruste. Natur und Kultur sind dadurch wie die zwei Seiten einer Medaille unverbrüchlich miteinander verbunden und zugleich kontrastiert.
Rückriem nennt die Arbeit schlicht "40 Bodenreliefs". Das Format und die Zahl der Steine nimmt Bezug auf die granitenen Bodenplatten der oberen Ausstellungshalle der Neuen Nationalgalerie. Schachbrettartig hat der Architekt hier in 42 Längs- und Querbahnen ein Ensemble aus abermals 120 x 120 Zentimeter großen Granitplatten geschaffen, die in gleicher Gestalt auch auf der umlaufenden Terrasse begegnen. Innen und Außen fließen räumlich ineinander, befördert nicht zuletzt durch die Glaswände ringsum.
Wie eine Zwillingsfigur
Der Bildhauer Rückriem antwortet auf das vorgegebene Material, das Format und das Verlegesystem der Bodenplatten und akzentuiert das Vorbild durch seine Flachskulpturen. Sie sind nach einem ausgeklügelten Schema auf der Gesamtfläche wie eine Zwillingsfigur zu verteilen. Auf jeder Längs- und Querbahn kommt jeweils nur ein "Relief" zum Liegen, und zwar so, dass sich keine Überschneidungen der Achsen ergeben.
Da die zur Verfügung stehende Bodenfläche ausreichend Raum für eine veränderliche Anordnung bietet, gibt es rechnerisch und praktisch zahllose Varianten. Und folglich eine Fülle möglicher Ansichten der Skulptur, die gedanklich wie gegenständlich aufs Engste mit dem architektonischen Raum korreliert.
Die "40 Bodenreliefs" sind, typisch für Rückriems Werk, konkret raumbezogen ("site specific"). Sie können daher an keinem anderen Ort gezeigt und ausgestellt werden. Konsequenterweise hat der Künstler die Skulptur einige Jahre später dem Museum übereignet, verbunden mit der Auflage, sie alle fünf bis sieben Jahre neu aufzuführen.
Wechsel des bildhauerischen Aggregatzustands
"Aufführung" ist vielleicht insofern ein treffender Begriff, weil die weiträumig verteilten Reliefs den Besuchern wie Schachfiguren, besser noch wie Spielsteine, erscheinen, die sich auf dem polierten Bodenparcours virtuell auch in Bewegung setzen lassen. Mit etwas Phantasie und unterstützt durch die Spiegelung des architektonischen Schaukastens hüpfen sie in der Dämmerung sogar aus dem Raum heraus und nach draußen.
Wenn man so möchte, sammeln diese entsprungenen Steine dort eine andere Rückriem-Skulptur auf, und zwar die nahebei auf dem Rasenstück am Reichpietschufer platzierte "Stele für Mies" aus dem Jahr 2004. Dabei handelt es sich um eine eigenständige, mit dem "Bodenrelief"“ aber korrespondierende, aus sechs Kuben in die Gesamthöhe von 720 Zentimeter geschichtete massive Steinskulptur.
Die Verwandtschaft resultiert aus dem vergleichbaren Maß und Material. Bei gleicher Grundfläche und aufgrund der Stärke der einzelnen Platten kann man die Stele als aufeinander gestapelte Versammlung der 40 Bodenplatten ansehen. Dadurch ist die Bodenarbeit auch dann, wenn sie im Depot verwahrt wird, im Außenraum repräsentiert. Gleichsam jederzeit bereit für den Sprung zurück in die Halle und zum Wechsel des bildhauerischen Aggregatzustands.
Aufmerksamkeit als Pingpong-Verfahren
Rückriem vermeidet in seiner Arbeit "40 Bodenreliefs" die spektakuläre, große Geste. Im Vergleich etwa mit den nach Material, Formen und Farben viel stärker auftrumpfenden Skulpturen von Isa Genzken, die zuvor am selben Ort zu sehen waren, ist sie geradezu unscheinbar, vielleicht sogar spröde. Aber gerade das ist ihre Stärke. Sie appelliert als minimalistische, der Idee des Formalismus verwandte Kunst weniger an die Retina und die visuelle Sensation als an die intellektuelle oder ideelle Reflexion.
Dennoch ist sie "schön" zu nennen, weil sie wie in einem Pingpong-Verfahren die Aufmerksamkeit auf die Architektur und das ihr zugrundeliegende Raster und auf sich selbst (und die Natur) zurücklenkt. Darüber hinaus erweist sie, flach wie sie ist, statt der Wand dem Boden, der in der bildenden Kunst nur selten eine große Rolle spielt, alle Ehre. Der Blick wird nach unten, von dort zu den Seiten, nach oben und wieder nach unten geführt, sodass die Ausgangsbasis wie eine vierte Wand erscheint.
Dass für die Ausstellung vonseiten des Museums kaum geworben wird, ist bedauerlich. Kein Transparent oder Plakat oder Glaswandtext weist auf die Schau hin, kein Katalog informiert ausführlicher über das Werk. Man muss sich mit dem ausliegenden DIN-A4-Zettel, der knappe Informationen bereithält, begnügen. Dort ist zu lesen, dass die Neuinstallation eine Hommage anlässlich des 85. Geburtstages des Künstlers ist. Allerdings sind die "40 Bodenreliefs" insgesamt nur für drei Wochen zu sehen, dann folgt eine Schau zu Josephine Baker.
In fünf Jahren begegnen wir ihnen wieder
Es könnte sein, dass Rückriems Werk künstlerisch ein wenig aus der Zeit gefallen ist und daher der Raum fehlt, die Reliefs länger sichtbar zu halten. Aber in fünf Jahren begegnen wir ihnen ja wieder und sehen dann hoffentlich weiter.
P.S. Wer mehr über das Relief als künstlerische Gattung erfahren möchte, sei auf die lehrreiche Ausstellung "Herausragend. Das Relief von Rodin bis Taeuber-Arp" in der Hamburger Kunsthalle verwiesen (noch bis zum 24. Februar).