Fahren Sie nach Wolfsburg! Kein Satz, der leicht fällt, aber es geht hier nicht um die durcheinandergewürfelte Streusiedlung rings um die Volkswagenfabrik. In der Stadt steht an einem halbtoten Ende des zur Fußgängerzone geronnen Planungsfehlers das Kunstmuseum. Schauen sie sich dort die Ausstellung zur Charkiwer Schule der Fotografie an!
"Ukrainian Dreamers" heißt die, und wenn Sie Glück haben, steht Sergiy Lebedynskyy am Eingang, führt die Treppe hinauf. Erster Eindruck: Lebedynskyy, geboren 1982 in Charkiw, ausgebildet an der der dortigen nationalen Automobil- und Autobahn-Universität, zum Doktor der Verfahrenstechnik an der Universität in Cottbus promoviert, muss einen geräumigen Keller haben. In genau jenem nämlich lagerte er in Wolfsburg nach einigen Wirren größere Teile des Archivs des Moksop, des Museums der "Kharkhiw School of Photography".
Lebedynskyy, leichte Halsschmerzen, grauer Hoody, schwerer Rucksack, erzählt, dass er vor rund zweieinhalb Jahren tolle Lampen für den 300 Quadratmeter großen Ausstellungsraum nach Charkiw transportierte. Etwa in der Woche, als Olaf Scholz am langen Konferenztisch im Kreml das eiskalte Treffen mit Wladimir Putin hinter sich brachte.
Evakuierung von Fotos nach Niedersachsen
Sie hatten das Museum 2018 gegründet, wollten im Herbst 2022 mit einer größeren Ausstellung des bekanntesten ukrainischen Fotografen eröffnen: Boris Mikhailov. "Ein paar Tage nachdem ich die Lampen aufgehängt hatte", Lebedynskyy unterbricht sich hier mit einem sehr abgehackten, kehligen Lachen, "verstanden wir, dass die Sache mit der Eröffnung wohl nicht funktionieren würde."
Russland überfiel die gesamte Ukraine, zielte mit Artillerie und Marschflugkörpern sehr genau auch auf zivile Infrastruktur und Kultureinrichtungen. Nachdem mit einer ersten Welle Menschen evakuiert wurden, brachte Lebedynskyy mit seinen Mitstreitern größere Teile des Foto-Archivs nach Wolfsburg. In seinen Keller.
Als er aber sein Dach reparieren lassen musste, bekam Lebedynskyy Angst vor Wasserschäden und rief beim Kunstmuseum an – ob es die Sammlung für kurze Zeit aufbewahren könnte? Andreas Beitin, Direktor des Hauses, hat sich kurz der Führung angeschlossen. So furchtbar die Umstände, so glücklich seien sie, jetzt diese Bilder hier aufhängen zu können, sagt er. Arbeiten, die sonst wohl nur ein sehr kleiner Kreis von Experten osteuropäischer Fotografie kennen würden.
Das Untergrundnetzwerk der Fotografie
Um den Rundgang einordnen zu können, muss man kurz in die Geschichte der Fotoclubs in der Sowjetunion eintauchen – jene Orte loser, aber regelmäßiger Zusammenkunft von Fotografen, die sich ab Mitte der 1950er-Jahren in den Städten ausbreiteten und deren künstlerische Relevanz nicht selten an Rändern des kolonialen Konstrukts wuchs: Ein Netz von Kulturräumen, in denen sich Menschen weitab von Parteiversammlungen trafen und längst nicht entlang der Parteilinien unterhielten. Oft unterhalb der Zensurschwelle diskutierten Fotografen Arbeiten und Ideen, vermittelten sich Techniken, liehen sich Material und suchten Kontakte zu anderen Clubs, in die ihre Bilder wandern konnten.
Die Zusammenschlüsse hatten eine doppelte Aufgabe: Amateure sollten hier Anschluss finden, gleichzeitig sollte die staatliche Kulturverwaltung sie im Auge behalten. Trotzdem formten sich etliche Gruppen, die die offizielle Doktrin unterliefen, Aufnahmen produzierten, die ganz ohne die verordnete, optimistische Zukunftszugewandheit auskommen wollten.
An manchen Orten fügten sich die öfter ziemlich verrauchten und mit ordentlich Wodka durchgespülten Sitzungen zu Nestern von Nonkonformismus und ästhetischem Widerstand: In Vilnius, Kaunas, Riga oder Tallinn dokumentierten Fotografen den putzrissigen Realsozialismus und halbfertige Neubausiedlungen. Sie zeigten vom Leben zerfurchte Gesichter, Gegenbilder zur Propaganda, in denen Armut und Tristesse die Menschen drückte. Mittendrin näherten sie sich einander auch mal zärtlich.
Überhöhte Staubkörner, Fussel, Kratzer
Der Fotoclub von Charkiw wurde 1965 im Haus der Amateurkunst ins Leben gerufen, etwa zehn Jahre später übernahm die Gruppe Vremia, die sich 1971 gegründet hatte. Vremia übersetzt man mit "Zeit", ihr expressiver Avantgardismus fügt dem allerdings hintersinniges Schulterzucken hinzu – im künstlerischen Untergrund stand der Begriff auch für das subversive "zeitgenössisch". Vremia richtete sich spielerisch gegen jeden dokumentarischen Stil.
Arbeiten ihres Gründungsmitglieds Juri Rupin eröffnen die Schau. Gleich das erste, eine Collage aus verhuschtem Nachtbetrieb, feuchtem Kopfsteinpflaster und einer darauf liegenden nackten Frau sorgte für einen Skandal und die zeitweilige Schließung des Clubs. Oleg Maliovanys experimentelle Tonwerttrennung zerlegte Bilder in Farbschichten und abstrahierte die Körper in strahlend bunte Landschaften. Evgeniy Pavlov experimentierte mit Collagen und Überblendungen, bisweilen auch mit den oft als Fehler wahrgenommenen Details von Fotografie – er überhöht Staubkörner, Fussel, Kratzer, komponierte aus Ihnen Strukturen, die Schritte zur abstrakten Malerei andeuten.
Eine fantastische Entdeckung ist der in Westeuropa kaum bekannte Oleksandr Suprun. Seine Collagen führen ins Surreale, für sie lief er mit einer versteckten Kamera auf Märkten oder im Straßengewühl umher, überhöhte den Naturalismus, auf dass die Welt auf Bildern gleichsam realer und doch bedrängender wirkt – und gleichzeitig von einer melancholischen Poesie durchzogen ist. In Wolfsburg hängen einige wenige Arbeiten von ihm, aber eben auch zwei mit Schere und Kleber zusammengefügte Originalkompositionen, die Suprun dann abfotografierte. Ein kleines "Mr. Suprun, wie haben Sie das gemacht?" für Zeiten vor Photoshop.
Kleine Schummeleien als Kunstform
Und da ist der bekannteste Charkiwer und ukrainische Fotograf: Boris Mikhailov. In Wolfsburg sind mehrere Werkgruppen ausgestellt, die frühesten gehören zu den "Luriki", zu denen sich die Ausstellung einen kleinen genealogischen Exkurs gönnt. Man muss sich ein wenig hinunterbeugen, die unterste Reihe wird von einem Handlauf beschnitten: Andreas Beitin gibt hier einen wahrscheinlich nicht nur Wolfsburg-typischen Moment preis: Über viele Wochen hatte Mikhailov über die Bilderfolge in der als Petersburger Hängung sortierten Gruppe nachgedacht. Kurz vor der Eröffnung stellten sie dann fest: Tja nun, geht leider nicht, Arbeitsschutz und Versicherungen machen einen Strich durch die ideale Höhe über dem freischwebenden Gang, der an der Ausstellungswand vorbeiführt.
Also senkten sie die Bildergruppen, und so beugen wir uns nun tief hinunter, um die Mechanik der "Luriki" zu entziffern: Ihr Ursprung liegt in einer Art kunsthandwerklichem Auftragszettel. Da will eine Familie ihr Porträtfoto retuschiert haben, vielleicht koloriert, möchte das Frauenduett auflösen, oder zumindest einer von ihnen Männer zuschanzen. All das ist auf einem groben Abzug vermerkt.
Mikhailov bekam Aufträge für solch kleine Schwarzarbeiten. Charkiw, erzählt Sergiy Lebedynskyy, war eines der Zentren dieser privaten Verschönerungsmaßnahmen, die eben "Luriki" hießen. Und aus der entwickelte Mikhailov eine Kunstform, kolorierte schließlich in der "Sots Arts"-Reihe den sozialistischen Alltag, mitsamt Sportgruppen und Schärpen von Weltkriegsveteranen. Ihnen verpasste er zarten Lippenstift, den auch Lenin himself auf dem herumgeschleppten Poster vormachte.
Der ganze Körper Ohnmacht, Entsetzen, Fassungslosigkeit
Eine dritte Werkgruppe versucht den performativen Charakter seiner Events in Fotoclubs nachzuahmen: Mikhailov hatte Doppelbelichtungen als Zusammenspiel von Diaprojektoren konzipiert, spielte sie zu Pink Floyd-Musik ein – "Buterbrody". Und grade bei dieser Serie und Mikhailov überhaupt kann man einmal fragen, warum Nacktheit so eine große Rolle spielte, warum Sexualorgane wiederkehrenden Motive sind, in der Sandwich-Serie übergossen von Farbflächen und überblendentem Alltag?
Auch in späteren Generationen der Charkiw School, einer Serie von Roman Pyatkovka etwa, springen nackte Frauen in ostbiederer Wohnzimmereinrichtung herum. Lebedynskyy hat die Frage entweder erwartet oder schon häufiger beantwortet, auf jeden Fall aber gut durchdacht. Von seiner Antwort zieht sich ein weiter Bogen über viele Arbeiten der früheren Sowjetunion: Man füllte eine Lücke, sagt er, mittels Fotografie. Das Leben war meist sehr viel weiter als das System.
Er selbst ist Teil einer Gruppe, die sich als spätere Generation derselben Charkiwer Schule versteht. Sie nennen sich Shilo, nach einer spitzen Ahle, die sticht und Schmerzen zufügen kann. Sie dokumentieren in einer aktuellen Arbeit den fortlaufenden Alltag in Charkiw, bedrückende Bilder, die uns zurück zum Anfang führen, zu den furchtbaren Umständen des Krieges und der glücklichen Fügung, dass die Bilder deshalb nun in Deutschland ausgestellt werden. In ihrer Mitte steht ein Mann, der in der Hängung auf eine Art fortlaufende Kaskade von Zerstörung und Gewalt und auf dazwischengedrängten Alltag blickt. Die Abzüge sind auf sowjetisches Fotopapier gedruckt, dessen Alter die Fehlfunktionen unberechenbar mitliefert. Der Mann schaut also auf den alles entbeinenden Krieg in der Stadt. Man kann ihn auch allein betrachten, er steht da, nur mit einer Trainingshose bekleidet. Der ganze Körper Ohnmacht, Entsetzen, Fassungslosigkeit.