Porträt des Paris-Bar-Betreibers

Tuscheln mit Michel Würthle

Ich liebe Charlottenburg. Für die alten Damen mit den fleischfarbenen Strumpfhosen, die geschmeidig dahintippelnden Swarovski-Hündchen, das Wohlstandsgrün der kleinen Tischdecken zwischen den vollgestopften Auslagen bei Rogacki, die sanfte Ruhe der Werbeplakate für Privatpraxen ästhetischer Chirurgie auf dem Ku’damm und für die Paris Bar.

Ja, für die Paris Bar.

Ich weiß, dass ich die Paris Bar eigentlich hassen müsste. Da sitzen die meiste Zeit eingewachsene, alte Herren in – viel zu jugendlichen – Maßanzügen herum, die den Frauen, mit denen sie da sind, nicht richtig zuhören, urprollige, Le-Pliage-behangene Grüppchen, die ungestüm ihr Halbwissen über die weißen Tischdecken hinweg proklamieren oder seichte Intellektualitäten in ihre Bouillabaisse brabbeln. Ich weiß. Ich weiß. Ich kann aber einfach nicht anders. Etwas an diesem Ort finde ich wirklich hinreißend.

Vielleicht liegt es daran, dass ich insgeheim doch eine Kulturoma bin, oder daran, dass ich lieber abgewetzte Tweedjackets anglotze als selbst bedruckte Turnbeutel. Sowieso glotze ich unglaublich gern. Am liebsten glotze ich Dinge und Menschen an, die anders sind als ich. Das geht in der Paris Bar sehr gut. Dieser Ort ist voll von Geschichten, die allesamt nichts mit mir zu tun haben.

Michel sieht nie so aus, als würde er glotzen. Er sitzt da, über den Tisch gebeugt, in irgendein Gespräch vertieft, raucht. Manchmal wendet er den Blick kurz ab, streift die Straße entlang, einmal rauf und wieder runter, so als würde er da gerade etwas Geheimes besprechen und müsste überprüfen, ob jemand kommt, der ihn dabei stören könnte. Selbst ohne zu wissen, dass er es ist, der diesen sagenumwobenen Ort zu dem gemacht hat, was er ist, spürt man das Autoritätsgeglitzer, das ihn umgibt, schon in der ersten Sekunde.

Als ich komme, verschwindet sein bisheriger Gesprächspartner wie von Geisterhand durch die Tür. Fliegender Wechsel. Michel hat Termine. Er begrüßt mich mit "Servus, meine Schöne". Ich fühle mich geschmeichelt, weil ich finde, dass Michel ganz grundsätzlich einen sehr guten Geschmack hat.

Ich wollte schon lange ein Interview mit Michel machen, jetzt gerade ist es gut, weil er eine Ausstellung bei der CFA hat. Da hat ein gewisser Fabrice Hergott sehr viele Zeichnungen von Michel zusammengestellt, die hängen jetzt da bei "Bruno" in der Grolmanstraße. Die Ausstellung trägt den Titel "le cinéma de la vie". Herr Hergott hat sich den Titel ausgedacht, sagt Michel, als ich ihn danach frage. Ich finde es irgendwie süß, dass er das selbst nicht kitschig findet.

Michels Zeichnungen sind voll, wabernd, durchsetzt von Bildfetzen, Erinnerungen, Anekdoten, Textfragmenten. Ein fröhlich-melancholisches Gewusel. Ich mag die Zeichnungen, auch wenn ich sie nicht alle lesen kann. Dafür fehlt mir das Wissen des Beobachters. Vielleicht ist es auch gerade das, was ich an ihnen mag. Wie Chiffren, Traumprotokolle, die mich eigentlich nichts angehen. Motive, die oft vorkommen, sind Männer mit Hüten, Männer mit Sonnenbrillen, Männer in Trenchcoats, Männer, die rauchen, Cowboys und Indianer.

A: "Michel, was ist da los mit dem Kino?"

M: "Na ja. Meine Generation war kinosüchtig. Unter anderem auch ich. Ich saß immer in der ersten Reihe. Vor allem ging es um die amerikanischen Western der 50er-/60er-Jahre. Inhalt wurscht. Hauptsache waren die Bewegungen, was die Schauspieler getragen haben, wie sie es getragen haben. Die herrlichen Kostüme, das alles war von einer unerreichbaren Eleganz. Ich hatte so eine innige Bewunderung für die Darsteller, Jeff Chandler zum Beispiel, der war als Chihuahua wunderbar. Die Filme wurden damals alle synchronisiert von der Berliner Firma Wenzel Lüdecke, das war zum Totlachen. In einem Film gibt es eine Szene mit John Wayne und einer mittelalten Rancherin, der er irgendeinen Gefallen getan hat:

    Sie: 'Ringo, was möchten Sie trinken?'
    Er: 'Kaffee, Ma’am, schwarz, heiß und süß wie die Sünde.'

Aua, aua. Es ist so schmerzhaft, dass ich lachen muss. Kino, immerhin."

A: "Fühlst du dich wie ein Cowboy?"

M: "Ich würde sagen, das hat sich erledigt. Ich bin ein Komantsche. Aber natürlich, gewisse Attitüden, Bewegungen bleiben. Wäre ich Kuhhirte, also ich mein', ich könnte nicht mal von hier bis zum Savignyplatz radlfahren."

Ich muss wieder lachen. Die Cowboy-Sache ist natürlich ziemlich verquer. Michel hat vielleicht keinen blassen Schimmer von postcolonial studies. Vielleicht hat er sogar Schimmer und es interessiert ihn einfach nicht. Wenn jemand etwas sagt, das Michel nicht interessiert, sagt er einfach: "Hör mir auf mit dem Schaaß" oder "Ich gähn mich weg". Das ist eine gute Strategie, um alles, was nicht in die eigene Erzählung passt, auszuklammern. Ich glaube, für Michel hat das bisher ziemlich gut funktioniert.

Michel erzählt gerne, und ich höre ihm gerne zu. Man muss ganz nahe zu ihm rücken, um seiner verschwörerisch brummenden Stimme folgen zu können. Teller klappern, Hunde bellen, schrilles Lachen, der Bus fährt vorbei, jemand verkauft die Straßenzeitung. Wir rauchen eine nach der anderen. Wir rauchen uns ins Gesicht. Ich rauche eine Friedenspfeife, statt mit ihm über die Indianer zu streiten.

In manchen Dingen sind wir uns tatsächlich einig. Darüber, dass Mitte scheiße ist zum Beispiel. Darüber, dass die Dachterrasse des Hotel de Rome zwar hässlich ist, der Name aber schön. Und darüber, dass der Name des Besitzers des Hotels noch schöner ist. Sir Rocco Forte heißt er. Ich sage, dass das fast besser ist als Rocco Siffredi, und Michel lacht, weil er vielleicht nicht weiß, wer das ist.

Über Dinge sprechen, über die wir uns einig sind, funktioniert sehr gut mit Michel. Als wir über unseren Hass auf die exzessive Bruncherei am Landwehrkanal sprechen zum Beispiel. Michel sagt: "Da sitzen's, die Frühstückenden am Paul-Lincke-Ufer, dann frühstücken’s wie die Wilden, die ganze Zeit mit ihren enormen Tellern und ihrem kalten Käse, und sie sind glücklich, und es steht in ihnen ins Gesicht geschrieben 'Suuper Lecker' und 'Preis Leistung, einfach super'."

Er macht ihre zufriedenen Gesichter so schön nach, dass ich ihn umarmen will.

Weil wir uns mittlerweile ganz gut eingegroovt haben, machen wir Metadiskurs. Wir sprechen über gute Interviews. Ich finde, es gibt keine besseren Interviews als die von Tom Kummer. Das mit Pamela Anderson ist der Wahnsinn. Dass sie erfunden sind, ist Michel und mir egal.

"Wer braucht denn schon die Wahrheit?", fragt Michel.

"Keine alte Sau", sage ich.

Wir lachen wieder. Die Indianersache habe ich mittlerweile vergessen. Wir sprechen über Daniel Küblböck. Ich lese Michel ein Zitat aus der "InTouch" vor, das ich sehr traurig finde: "Daniel Küblböck habe viel Zeit alleine verbracht und oft ein Glas Champagner in der Hand gehabt."

Michel findet das auch traurig. "Laut Capote erzeugt zu viel Champagner allerdings Mundgeruch."

Ich sage, dass ich es vor allem traurig finde, dass jemand, der im Leben so wenig verstanden wurde, dass er daran kaputtgegangen ist, nicht mal im Tod verstanden wird. Dann erzähle ich von den Delfinen, die immer neben der Fähre vorbeigesprungen sind, auf der ich mit meinen Eltern nach Elba gefahren bin. Vielleicht wollte Daniel auch mit den Delfinen schwimmen, so wie ich als Kind.

Michel erzählt mir von dem Film "Der Knabe auf dem Delphin" von 1957 mit Sophia Loren. Er macht ein schwärmerisches Gesicht, als er davon erzählt. Als ich zu Hause die Bilder google, verstehe ich warum. Da sieht man weder Knaben noch Delfine, sondern fast ausschließlich Sophia Loren in einer Art durchsichtigem Leinenhemd, das die gesamte Spielfilmlänge hindurch konsequent klatschnass auf ihren überwältigenden Brüsten klebt.

Nach dem zweiten Glas Wein kann ich gut assoziieren und erzähle Michel vom Narrenschiff. Das ist eine mittelalterliche Moralsatire von Sebastian Brant aus dem 15. Jahrhundert mit vielen, sehr schönen Illustrationen. Im Mittelalter wurden die "Narren" auf ein Schiff gepackt und raus aufs offene Meer geschoben, damit die Gesellschaft sie los war. Auf dem Schiff gab es dann eine temporäre (weil zum Tode verurteilte) Narrengesellschaft. Sind die Narren unter sich, gibt es keine Narren mehr, sozusagen.  

Die Gesichter der Leute am Nebentisch sehen auf einmal ein bisschen verzerrter aus. Eine Frau trägt einen gelben Hut, unter dem sie ein bisschen wie die Grinsekatze aussieht. Ich denke an Michels Zeichnungen, das Wimmeln und die Dichte darin, und das Narrenschiff, und verstehe das mit dem Kino auf einmal ein bisschen besser.

 

Ein Taxi rollt an. Hält. Fensterscheiben fahren nach unten. Udo Walz blinzelt raus. Er ruft irgendwas. Michel antwortet: "Na Servus, der regierende Friseur." Michel macht seine Begrüßungszeremonie, und Udo und seine Entourage werden an einen Tisch verfrachtet. Michel erzählt mir dann, dass er lieber zu dem türkischen Friseur am Paul-Lincke-Ufer geht als in die großen Salons. Da gebe es kein Tamtam, sondern für alle den gleichen Einheitsschnitt, der immer gleich gut ist. Udo ist ihm deshalb offensichtlich nicht böse.

Das geschäftige Ein und Aus, Michels dahinschleppende Erzählungen und die Bordeaux-induzierte Verbrüderung zwischen Michel und mir machen mich ganz dösig, sodass ich gar nicht merke, wie die Zeit vergeht. Die Tonaufnahme läuft schon seit über einer Stunde.

Meine Freundin Charlotte hat mal gesagt, man darf nicht so oft in die Paris Bar gehen, weil es dumm macht. Ich weiß, was sie meint. In den "Chroniken von Narnia" (ich weiß, urpeinliche Referenz, ich gähn' mich weg) gibt es so eine Zwischenwelt; ein Wald mit lauter kleinen Teichen, in die man springen muss, um zur nächsten Welt zu kommen. Wenn man zu lange braucht, um sich für einen Teich zu entscheiden, wird man zu müde, um sich noch bewegen zu können. Dann ist man dazu verdonnert, für immer und ewig in der Zwischenwelt herumzuschlummern. Ich muss gähnen. Michel gähnt auch. Die Grinsekatze schnurrt.

Dann erzählt mir Michel vom Nachtleben in Paris, von Belmondo und dem Lokal am Montparnasse, in dem er Brigitte Bardot kennengelernt hat. "Angenehm vulgär" war das, sagt er, damals war die Stadt noch voller Glamour. Er sagt nicht "Glamour" wie die amerikanische Frauenzeitschrift, sondern "Glamoouuur" mit langem französischem "ouuu". Ich klebe an seinen Lippen wie ein kleiner Junge seinem versauten Märchenopa. Dann sprechen wir lange über den qualitativen Niedergang von Unterwäsche. Von Palmers und Beate Uhse, von Victoria's Secret und Agent Provocateur. La Perla ist immer noch das Beste. Wieder Einverständnis. Gott sei Dank.

Ich erzähle ihm von den Penispumpen hinten im Neckermann-Katalog meiner Oma, durch die ich mich früher immer heimlich geblättert habe. Vielleicht will ich auch ein versauter Märchenopa sein. Ich bin neidisch auf Michel, weil er all das erlebt hat, was für mich immer nur Erzählung war. Als er damals nach Berlin kam, war es nur eine Wüste. Ich sage, dass ich es schlimm finde, sich nach dem Mangel zu sehnen. Aber dass das eben passiert, wenn es von allem zu viel gibt. Michel sagt: "Iss nicht zu viel vom Topfenstrudel, der könnte dich verstopfen, Trudel."

So betrunken, wie ich bin, finde ich das ziemlich weise.

Wenn Michel so herumwitzelt, wenn er vom Kino erzählt, der Verstaubtheit Wiens, von den geruchlosen "Pornoheftln" der 60er oder von Bardots Profil, dann glitzern seine Augen wie die von einem kleinen Jungen. Darin ist immer so eine Mischung aus Scham und Übermut. Vielleicht ist es das. Michel ist der zehnjährigste aller Märchenopas, die ich je kennengelernt habe. Es ist wundervoll, ihm zuzusehen. Ich bin im Kino! Sogar eins, in dem man rauchen darf.

A: "Bist du eigentlich schüchtern?"

M: "Ja, selbstverständlich. Bin aber ein guter Nicht-Schüchternheits-Darsteller."

Michel erzählt mir davon, wie er als Bürgersohn damals in Wien in den Kreis dieser acht bis zehn Jahre älteren Männer aufgenommen wurde und wie gut sich das angefühlt hat. "Ausgestoßene" waren das damals. Dass er mit ihnen verkehren durfte, fühlte sich für ihn so an, als würde er in eine Gang aufgenommen werden. "Geborgenheit", sagt er dann.  

M: "Eigentlich hatte ich keine Feinde, aber auf einmal hatte ich welche, ich habe sie geerbt, nicht selbst erkämpft. Wegen diesen Freundschaften verachtet zu werden war ein großartiges Gefühl. Da war diese radikale Ablehnung, alles war scheiße, und das hat mich maßlos erheitert, bis ich irgendwann begriffen habe, dass die alle wirklich gut waren."

Irgendwie berührt mich die Art und Weise, wie er davon erzählt. Vielleicht weil ich spüre, dass es am Ende doch einfach nur darum geht, eine Gang zu haben. Weil man sonst alleine bleibt mit seinem Champagnerglas und dann zum Ende hin mit den Delfinen schwimmen muss.

Als Michel mich zum Abschied auf die Wange küsst, bin ich ein bisschen wehmütig. Vielleicht weil der Film jetzt vorbei ist, ich ganz dämmrig geworden bin vom Schummerlicht und das Schiff jetzt ohne mich in den Sonnenuntergang dümpelt.

Vielleicht ist das gut so.

Ich drehe mich noch einmal um, und Michel winkt mir vom Mast.

Ahoi Ahoi, Bussi Baba, Paris Bar, ich liebe dich, ich hasse dich, meine kleine, schöne Hafennutte!