Belgien ist ein kleines Land. Und leistet sich doch zwei Triennalen mit internationalem Anspruch, die nicht bloß parallel stattfinden, sondern obendrein in derselben Region. Schauplatz der Nachbarschaftsevents sind die gesamte belgische Nordseeküste (65 Kilometer lang) und die Stadt Brügge – deren Ortsteil Zeebrugge liegt am Meer und beherbergt einen Hafen, der zu den wichtigsten Umschlagplätzen zwischen Kontinentaleuropa und dem Rest der Welt gehört.
Als Nahtstelle zwischen der Beaufort-Triennale am Meer und der Triennale Brügge kommt dem Strand von Zeebrugge besondere Bedeutung zu, begegnet man hier doch einer Arbeit, die als Gemeinschaftsprojekt beider Ausstellungen entstanden ist. Die Rede ist von Ivan Morisons "Star of the Sea" – einem Mittelding aus sternförmiger Sandburg und Bunker, bekrönt durch sechs Schornsteine.
Mit seinem nahe am Wasser gebauten Konstrukt verweist der in Großbritannien lebende türkische Künstler auf die Befestigungsanlagen an der belgischen Küste. Noch heute zeugen sie davon, dass sich dieser idyllische Landstrich im Ersten und Zweiten Weltkrieg in ein mörderisches Inferno verwandelte. Zugleich verlocken die Betonröhren der begehbaren Arbeit dazu, hineinzusteigen und das tunnelförmige Innere zu erkunden. Ein Seestern mit Spaßfaktor. Allerdings empfiehlt es sich, bei der Begehung auf den Wechsel von Ebbe und Flut zu achten. Andernfalls kann es passieren, dass man sich auf dem Rückweg mindestens nasse Füße holt.
Vorzeigebeispiel der Public Art
Ivan Morison ist einer von 18 Künstlerinnen und Künstlern, die Els Wuyts, die diesjährige Beaufort-Kuratorin, zur achten Ausgabe des Open-Air-Events mit Meerblick eingeladen hat. Neun Orte sind diesmal dabei, die sich zu einem rund 65 Kilometer langen Kunstparcours formieren. Muss der Shuttle-Service bei anderen Großausstellungen eigens organisiert werden, gehört er hier zur Infrastruktur: Die Küstentram verkehrt von De Panne, westlichster Punkt Belgiens und nur einen Katzensprung von Frankreich entfernt, über Ostende, größtes Seebad Westflanderns, bis Knokke-Heist, das nahe der niederländischen Grenze liegt.
Wer viel Zeit mitbringt, kann mit dieser Bahn von einem Beaufort24-Ort zum nächsten fahren – in jeder der Gemeinden sind zwei neue Arbeiten zu sehen. Einfach erreichen lassen sie sich zudem über eigens ausgewiesene Wander- und Radtouren. Angesichts dieser geballten Logistik mag es scheinen, als ob an der "Vlamsche Kust" wirklich alle Wege zur Kunst führen.
Acht der 18 Werke, die seit Ende März gezeigt werden, bleiben nach dem Ende der Ausstellung stehen – sie bereichern den Beaufort-Skulpturenpark, der dann 50 Skulpturen und Installationen umfasst. Was 2003 von Willy Van den Bussche, damals Direktor des Kunstmuseum aan Zee (Mu.ZEE), aus der Taufe gehoben wurde, hat sich zu einem Vorzeigebeispiel der Public Art gemausert. Kunst für alle, zugänglich in Gärten und Parks, auf Straßen und Plätzen, gar entlang eines Flussufers, daran mangelt es nicht. Doch dass sich eine Freilichtausstellung über die gesamte Küste eines Landes erstreckt, das dürfte einmalig sein. Chris Reas "On the beach" wäre die ideale Beaufort-Begleitmusik.
Segen und Fluch zugleich
Dabei erweist sich die Nähe zum Strand als Segen und Fluch zugleich. Zum einen schaffen die weitläufigen Sandstreifen und hügeligen Dünenlandschaften eine Kulisse, die Urlaubsgefühle aufkommen lässt. Selbst die allgegenwärtigen hässlichen Betonblöcke mit Ferienwohnungen – die Belgier, bei denen Sinn für Selbstironie zur nationalen DNA gehört, sprechen von "unserem Atlantikwall" – vermögen die Assoziation von "Sommer, Sonne, Sand und Meer" kaum zu trüben. Zum anderen kann sich das Wellness-Reservoir der Küste als kontraproduktiv erweisen, weil Gegenwartskunst, um ihre Wirkkraft zu entfalten, mitunter einen garstigen Resonanzboden braucht.
Mit ihrer Ausstellung, der Els Wuyts das Motto "Fabric of Life" mit auf den Weg gegeben hat, versucht die Kuratorin so etwas wie die Quadratur des Kreises. Wir dürfen die Seele baumeln lassen, und zugleich soll uns die Kunst aus unseren Denk- und Sehgewohnheiten reißen. Am besten glückt das angesichts jener Arbeiten, die ihren Standort tatsächlich transformieren, anstatt ihm lediglich einen bemerkenswerten Aspekt hinzuzufügen.
Johan Creten ist das mit seiner Monumentalskulptur "The Herring" gelungen. Am Strand von Sint-André in Koksijde hat der flämische Bildhauer eine fünf Meter hohe Bronzestatue platziert, zu der sich jeder, der vorbeigeht, in ein Verhältnis setzen muss. Ignorieren ist ausgeschlossen bei der herben Aktfigur, die einen Hering wie einen Wappenschild präsentiert – eine Anspielung auf den legendären Heringswinter 1942/43, als sich die Fische, die in riesigen Mengen an die belgische Küste gespült wurden, mit bloßen Händen einfangen ließen. Wie in den Gemälden von Max Beckmann figuriert der Fisch als Fruchtbarkeitssymbol – zudem zielt der in Paris lebende Künstler auf den Gleichklang der französischen Wörter "la mer" und "la mère".
Ein verirrter Meteorit
Eine substanzielle Verwandlung gelingt auch Jef Meyer mit seinem unbetitelten Betonmonolithen am Strand von Middelkerke. Ähnlich wie Ivan Morisons "Star of the Sea" bezieht sich Meyers Betonbunker mit Aussicht auf den Atlantikwall, den die deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg anlegten, um die Invasion der Alliierten zu verhindern.
Beileibe nicht alle Beaufort24-Beiträge befinden sich in direkter Küstennähe. Vielmehr ermuntert die "Triennale am Meer" immer wieder zu Abstechern ins Hinterland. Beispielsweise ins sogenannte Leuchtturmviertel von Ostende. Im dortigen Nachbarschaftsviertel hat Marius Ritiu einen zerklüfteten Felsen aus Kupfer aufgestellt. Der Solitär, betitelt "At the Mercy of Nature (Sisyphus part X)", sieht aus, als hätte sich ein Meteorit in die Kunstwelt verirrt.
Kein Meer in Sicht auch bei der Turnstunde, die Alexandra Bircken vor und auf dem Koning Albert I-Monument in Nieuwpoort inszeniert hat. Im Ersten Weltkrieg kämpfte der belgische König als Kommandeur der Heeresgruppe Flandern unerschrocken gegen die übermächtige deutsche Besatzung. Zum Dank dafür wurde dem Monarchen ein Ehrenmal mit Reiterstatue gewidmet.
Waghalsiger Handstand am Monument
Dessen gravitätisches Erscheinungsbild bürstet Bircken mit zwei munteren Turnerinnen aus Aluminium gegen den Strich. Modell stand ihr die eigene Tochter. Die artistische Performance des Figurenpaars "Top Down / Bottom Up" verlegte Bircken auf den Rasen vor dem kreisförmigen Monument sowie auf den ringförmigen oberen Abschluss, wo eines der Mädchen einen waghalsigen Handstand vollführt. Offenbar empfinden die Belgier diese Lockerungsübung der deutschen Künstlerin keineswegs als Majestätsbeleidigung. Jedenfalls zählt das Skulpturenpaar bei Beaufort24 zu den beliebtesten Fotomotiven.
Als Ausflug ins Grüne erweist sich der Skulpturentermin in Knokke-Heist. Im dortigen Willemspark hat Lucie Lanzini einen Stahlrahmen platziert, in dem ein bewegliches Fenster sitzt. Dessen Ozeanglas sowie die schweren bronzenen Seile, die an Meerestaue denken lassen, verbinden die Plastik mit dem Thema der Ausstellung.
Ganz in der Nähe, im erst kürzlich angelegten Burgemeester de Ghelderepark, hinterließ Richard Deacon, einer der Beaufort24-Promis, seine Visitenkarte. Doch "N/E/W/S" enttäuscht auf ganzer Linie: Die aus gekurvten Stahlelementen bestehende Plastik, deren Aussparungen an die Sprechblasen eines Comics erinnern soll, ist viel zu klein, um sich gegen den rechts und links vorbeiflutenden Verkehr behaupten zu können. Doch wünscht man sich sich nicht wirklich, sie sei größer.
Zwischen Gesellschaftskritik und faktischer Affirmation
Als Olaf Metzel 2006 den Schönen Brunnen in Nürnberg mit einer Kaskade von Stühlen aus dem Fußballstadion verkleidete, erhob sich vor Ort ein Sturm der Entrüstung. Jetzt wandelt Sara Bjarland auf den Spuren von Metzels Skulptur – ohne dass es bislang in De Haan zu Bürgertumulten kam. Dort, auf der bepflanzten Insel eines Kreisverkehrs, hat die finnische Künstlerin ihre sechs Meter hohe Plastik "Monobloc Moments" aufgestellt. Dem stapelbaren Plastikstuhl begegnet man beinahe überall – auch und gerade im Außenbereich von Cafés oder Restaurants am Strand. Womöglich versteht Bjarland ihre Arbeit als Kritik an der Wegwerfgesellschaft, für die der Monobloc eine Paradebeispiel ist. Aber weshalb hat sie die Wegwerfstühle dann in Bronze gießen lassen?
Auf dem schmalen Grat zwischen Gesellschaftskritik und faktischer Affirmation durch die Nobilitierung der Kunst bewegt sich auch die diesjährige Triennale Brügge, kuratiert von Shendy Gardin und Sevie Tsampalla. Zwölf Künstlerinnen und Architekten luden die Ausstellungsmacherinnen ein, um die Hauptstadt der Provinz Westflandern vor der Erstarrung als Unesco-Weltkulturerbe zu bewahren. Flankiert werden die "Spaces of Possibility" durch ein Rahmenprogramm, aus dem die Ausstellung "Rebel Garden" hervorsticht. In drei Häusern – dem Groeningemuseum, dem Gruuthusemuseum und dem Museum Sankt-Jans-Hospital – lotet das Musea Brugge das prekäre Verhältnis von Mensch und Natur aus.
Weil Brügge von Kriegszerstörungen und Feuersbrünsten verschont blieb, wähnt man sich in der Altstadt auf einer Zeitreise, die schnurstracks ins Spätmittelalter führt. Damals war Brügge eines der europäischen Zentren der Textilindustrie und des Fernhandels. Weil hier die Herzöge von Burgund residierten, gelangte zusätzlicher Reichtum in die prächtige Stadt, die von Kanälen durchzogen wird. Nicht die einzige Parallele zu Venedig: Beide Städte sind dem Massentourismus in Hassliebe verbunden. Um die Möglichkeitsräume in diesem Freilichtmuseum auszutesten, beackern die Triennale-Teilnehmer verschiedene Felder, vor allem Stadtrecherche und Stadtarchäologie, Natur und Ökologie, Park und Community Garden.
"Is it truly necessary?"
Hervorgegangen ist die Triennale aus Vorgängerveranstaltungen in den Jahren 1968, 1971 und 1974. Seit dem Neustart 2015 spielt Architektur eine wesentliche Rolle. Kein Zufall also, dass das Bangkok Project Studio mit von der Partie ist. Das von Boonserm Premthada gegründete Büro baute einen "Tower of balance", der als Hommage an Brügges Belfried gedacht ist – der mittelalterliche Turm, 83 Meter hoch, gehört zu den Wahrzeichen der Stadt. Wer die Holzkonstruktion des "Balance-Towers" erklimmt, kann sich im obersten Geschoss als Glöckner betätigen. So wuchtig dröhnt der Sound, dass es einen fast von der Plattform fegt.
Die im Brügger Zentrum vorherrschende gotische Backsteinarchitektur inspirierte Shingo Masuda und Katsuhisa Ostubo zu ihrer Skulptur "Empty drop". Mit der Frage "Is it truly necessary?" startet jedes Projekt der beiden in Tokio lebenden Architekten. Nicht weiter verwunderlich von daher, dass ihre Arbeit im Sint-Janshospitaalpark dem Geiste des Minimalismus verpflichtet ist. Drei Zylinder, bestehend aus abgetrepptem Mauerwerk, schmiegen sich harmonisch aneinander; einer dient als Einfassung für ein zartes Bäumchen, das dergestalt ins Zentrum eines "Hortus conclusus" gerückt ist.
Setzen Masuda + Ostubo Architects auf Verschmelzung mit dem Ambiente, so geht das belgische Architekturtrio Traumnovelle den umgekehrten Weg. Den Innenhof der Stadshallen aus dem 13. Jahrhundert verbarrikadierten Léone Drapeaud, Manuel León Fanjul und Johnny Leya mit einem neun Meter hohen, mit Planen verkleideten Stahlgerüst. Die Besucher können die Bühne der "Joyful Apocalypse" besteigen und sich selbst in Szene setzen; sie können aber auch wie von einer Tribüne herab verfolgen, was sich unten abspielt.
Am entgegengesetzten Ende der Gefälligkeitsskala
"Joyful Apocalypse" gehört zu den wenigen Arbeiten dieser Triennale, die sich als Störelemente positionieren. Am entgegengesetzten Ende der Gefälligkeitsskala rangieren Iván Argotes pittoreske Bronzestiefel, die der kolumbianische Künstler mitten in den Speelmansrei-Kanal verpflanzt hat. Viel Stadtfolklore, kaum Denkanstoß. Überzeugender sind da jene Projekte, die den Schulterschluss mit den Bewohnern und deren Aktivitäten suchen. Mariana Castillo Deball beispielsweise holte für ihr dreiteiliges Bienenstock-Plateau, das von individuell geformten Keramiksäulen getragen wird, Imker aus Brügge an Bord. Sie dürfen nicht nur den Honig abschöpfen; wenn "Firesong for the bees, a tree of clay" nach dem Ende der Triennale abgebaut wird, gelangen die "Exponate" in ihre Obhut.
Gäbe es einen Preis für die ungewöhnlichste Arbeit der Triennale Brügge 2024, so gebührte er Mona Hatoum: Im Garten der psychiatrischen Klinik Onzelievevrouw legte die in London lebende libanesische Künstlerin eine Untergrundpassage frei. Schwarze Steine, eingefasst von Metallgittern, kennzeichnen den Ort und führen zu einer schmalen Treppe.
In der Unterwelt erwartet uns ausgerechnet eine benutzbare Schaukel. Das Spielgerät, auf dem sich Kinder in freier Luft himmelhochjauchzend hin- und herschwingen, mutiert bei Hatoum zu einem Sinnbild der Beklemmung, ja des Eingesperrtseins – seit langem ein Leitmotiv der Künstlerin, die sich wiederholt mit Systemen der Disziplinierung und Kontrolle auseinandergesetzt hat. Das Schaukeln, das Lust bereitet: Bei Mona Hatoums Installation "Full Swing" wird es zur Last.