Können Pflanzen garstig sein? Scheint so, wenn sich das Venusfallenmaul der dionaea muscipula plötzlich um eine bedauernswerte Fliege schließt. 1922 montierte Friedrich Wilhelm Murnau die dokumentarische Sequenz in seinen Horrorfilm "Nosferatu" hinein. Im Kontext einer Vampirstory (nach Bram Stokers "Dracula"-Roman) und aus menschlicher Perspektive ist die Venusfliegenfalle natürlich ein fieses Pflänzchen – und passt als Filmclip auch gut in die aktuelle Ausstellung "Böse Blumen" der Berliner Sammlung Scharf-Gerstenberg (um die Wirkung von Charles Baudelaires berühmter Gedichtsammlung "Les Fleurs du Mal": tolle Ausstellung!).
Der Murnau-Ausschnitt war bereits in einer früheren Scharf-Gerstenberg-Schau 2022/23 zu sehen, "Phantome der Nacht: 100 Jahre Nosferatu". Das auf fantastische Kunst spezialisierte Museum am Schloss Charlottenburg präsentierte kunsthistorische Vorbilder für den Filmklassiker, von Goya über C.D. Friedrich bis zu Alfred Kubin. Und es wurde deutlich, dass "Nosferatu" auch später Künstlerinnen und Künstler in seinen Bann schlug, bis hin zu Alexandra Bircken und Tracey Moffatt.
Vom Kino ganz zu schweigen, wobei die "Dracula"-Adaptionen mit Bela Lugosi (1931), Christopher Lee (1958), Frank Langella (1979) oder Gary Oldman (von Francis Ford Coppola, 1992) wenig mit Murnaus sehr spezieller "Symphonie des Grauens" (so der Untertitel des Stummfilms) zu tun hat. Werner Herzog war dem blutgierigen Grafen Orlok, wie er in "Nosferatu" heißt, schon eher auf der Spur.
Blutiger Einheitsbrei
Nun kommt ein zweites Remake unter dem Titel "Nosferatu – Der Untote" ins Kino, der sich mit seinen ausgeprägten Body-Horror-Aspekten an ein junges Publikum richtet, obwohl sein Regisseur und Drehbuchautor Robert Eggers die Handlung des Originals von Murnau passagenweise geradezu nachbuchstabiert. In einem Interview für die Plattform ScreenRant im Dezember erwähnte er weder den Ur-Nosferatu noch die Leistungen der an der damaligen Produktion Beteiligten mit einem Wort. Der 1983 in New York geborene Filmemacher lässt sich lieber über die (unübersehbaren) Schwächen des Romans von Stoker aus, der ihm zu überladen mit "viktorianischem Ballast" erschien und zu "märchenhaft" war.
Dass Eggers weite Teile der Geschichte aus der Perspektive der Heldin Ellen Hutter (Lily-Rose Depp, die Tochter von Vanessa Paradis und Johnny Depp) erzählt, mag in der vollzogenen Konsequenz neu sein, ist aber schon in Stokers Vorlage angelegt, der aus Tagebuchnotizen, Briefen und Zeitungsartikeln zusammengesetzt ist. Und auch bei Murnau ist Ellen Hutter (bei Stoker heißt sie Mina Murray) gegenüber ihrem Ehemann Thomas Hutter (bei Stoker: Jonathan Harker) als Figur deutlich aufgewertet.
Wir haben es bei "Nosferatu – Der Untote" also mit einem waschechten Remake zu tun, was ja nicht verwerflich ist. Aber ein großer Wurf ist nicht gelungen. Denn Eggers landet, trotz immenser Production Values, immer wieder im blutigen Einheitsbrei des zeitgenössischen Horrorkinos. Er stopft allzuviel an visuellen Effekten hinein, was Staunen hervorruft, aber die Spannung mindert. "Der Untote" wurde in einem tschechischen Barockschloss gedreht, dazu einige Szenen auf offenem Meer, bei hohem Seegang und schwerem Wetter – das beeindruckt. Merkwürdigerweise wirkt ein Film wie Hitchcocks "Lifeboat" – 1943 komplett vor Rückprojektionen im Studio gedreht – viel aufregender. Regiehandwerk kann man sich mit Geld wohl nicht kaufen …
Das Schattenwesen ist Teil der wirklichen Welt
Interessant ist Eggers' Vampir. Anders als Murnaus überaus gespenstischer Orlok (Max Schreck) ist der von Bill Skarsgård verkörperte Untote eine betont erdenschwere Figur. Die Beiß-, Knack- und Schlürfgeräusche bei der Nahrungsaufnahme des Monsters unterstützen diesen animalischen Aspekt. Ab und zu musste ich in der Pressevorführung an Achill "das Vieh" in Christa Wolfs Kassandra-Roman denken. Orlok ist in der neuen Version ein hässlicher Vergewaltiger, der sich wie ein knochiger Weinstein des 19. Jahrhunderts kiloschwer auf sein weibliches Opfer sacken lässt. Eine interessante Vampirvariante für die #MeToo-Ära – und kurz nach dem Ende des Missbrauchsprozesses um Gisèle Pelicot in Avignon. Anders als Christopher Lees Gentleman-Dracula, der seine Opfer nach Charme-Offensiven beißt, könnte man bei Skarsgårds Machomonster K.O.-Tropfen als Hilfsmittel vermuten.
Der neue Graf Orlok ist eine zeitgemäße Figur. Der ganze hyperatmosphärische Ausstattungs- und Kostümfilmschnickschnack drumherum stört da bloß. Wie klug dosierend ging Friedrich Wilhelm Murnau ans Werk. Auch schlicht abgefilmte Dinge können ungeheuerlich wirken. Zu den stärksten Momenten in "Nosferatu– Eine Symphonie des Grauens" zählt jener, in der das Schiff mit dem Vampir im Hafen ankommt. Die feste Einstellung zeigt eine harmlose Hafenansicht von Wismar, im Film das fiktive Wisborg, mit der Marienkirche im Hintergrund. Langsam schiebt sich der Schoner ins Bild, das sagt: Der Tod kommt in die Stadt. "Nosferatu" hat den Expressionismus schon hinter sich gelassen, ist aus den irreal bemalten Studiokulissen des "Cabinet des Dr. Caligari" ins Freie gezogen. Gedreht wurde in Wismar, Lübeck, Rostock, auf Sylt und in den Karpaten. Das Unheimliche ist Teil der wirklichen Welt.
Einzig Graf Orlok, der Vampir, sticht als Fremdkörper heraus: Rattenzähne, Fledermausohren, Hände wie bewegliche Alraunewurzeln mit langen Krallen dran. Aber Murnau, dessen Kamera hier noch statisch und nicht "entfesselt" ist wie zwei Jahre später in "Der letzte Mann", geht mit Nahaufnahmen sparsam um. Aus der Distanz wirkt Orlok umso schrecklicher. Und natürlich als buckliger Schatten, der im Finale die Treppe zum Schlafzimmer der Heldin hinaufschleicht. Als Schattenwesen bleibt ihm keine Tür verschlossen.
Ein unheimlicher Filmklassiker irrt zum Erfolg
"Nosferatu" zeigt uns, dass Filme uns doch etwas anhaben können. Nicht körperlich, aber seelisch. "Nosferatu – Tönt dies Wort Dich nicht an wie der mitternächtige Ruf eines Totenvogels. Hüte Dich es zu sagen, sonst verblassen die Bilder des Lebens zu Schatten, spukhafte Träume steigen aus dem Herzen und nähren sich von Deinem Blut." Mit dieser Ermahnung auf einer aufgeschlagenen Buchseite beginnt der Film.
"Nosferatu" wurde auf Umwegen zum Klassiker. Die Uraufführung im Marmorsaal des Berliner Zoologischen Gartens am 4. März 1922 wurde im Rahmen eines opulenten Kostümballs gefeiert. Die Kritiken waren dann durchwachsen. Hellsichtig lobte immerhin Béla Balázs die Fokussierung des Films auf die Natur, der Film sei deshalb so wirkmächtig, "weil die stärkste Ahnung des Übernatürlichen gerade aus der Natur zu holen ist." Die Chance, ein großes Publikum zu erreichen, blieb dem Film jedoch versagt.
Zum Konkurs der Prana-Filmgesellschaft, deren einzige Produktion "Nosferatu" blieb, der dann gepfändet wurde, kam noch die Klage der Witwe Bram Stokers. Drehbuchautor Henrik Galeen war dem Plot von Stokers "Dracula"-Roman weitgehend gefolgt, eine klare Urheberrechtsverletzung. 1925 entschied ein Berliner Gericht in letzter Instanz, dass das Negativ und alle Kopien zu vernichten waren. Was nicht gelang, weil der Film bereits im Ausland im Umlauf war.
Bis "Nosferatu" auf Betreiben des Filmmuseums München 1981 erstmals rekonstruiert wurde, geisterten verschiedene Versionen mit unterschiedlichen Titeln herum. Eine französische Schnittfassung löste Ende der 1920er bei den Surrealisten um André Breton Jubel aus. Es waren die fließenden Übergänge zwischen Alltag und Traum, die Breton für den Film einnahmen. "Kaum hatte Hutter die Brücke überschritten, da ergriffen ihn die unheimlichen Gesichte, von denen er mir oft erzählt hat", wird in einem Zwischentitel berichtet. Das Bild dazu ist die profane Holzbrücke über einem Gebirgsbach, die der junge Hutter (Gustav von Wangenheim) auf dem Weg zum Grafenschloss überschreitet. Das Unheimliche erwächst der Fantasie des Publikums. Das ist in "Nosferatu" nicht die Ausnahme, sondern die Regel.
Murnaus Orlok ist ein bisexuelles, melancholisches Monster
Der junge Mitarbeiter eines Häusermaklers, Thomas Hutter, bricht aus der friedlichen Biedermeierwelt des Hafenstädtchens nach Transsylvanien, um mit dem Grafen Orlok über den Ankauf von Grundbesitz in Wisborg zu verhandeln. Hutter wähnt sich im Karpatenschloss bald wie ein Gefangener. Dass der unheimliche Graf sein Opfer "mein Liebwertester" nennt und dieser – anders als in Stokers Roman, in dem Harker unversehrt bleibt – mit Bissspuren am Hals aus dem Schlaf erwacht, ist als Reflex auf Murnaus Homosexualität interpretiert worden. Dessen offenbar bisexuelles und überaus melancholisches Monster – darin der haarigen Märchen-Bestie in Jean Cocteaus "La Belle et la Bête" (1946) vergleichbar – weicht jedenfalls deutlich von den späteren virilen Dracula-Verkörperungen ab.
Aber wie Dracula hat auch Orlok ein Auge auf die Ehefrau geworfen (als Ellen: Greta Schröder), ihr Porträt auf einem von Hutter mitgeführten Medaillon scheint für ihn den Ausschlag zu geben, schleunigst nach Wisborg zu reisen, in einem von sechs Särgen – die anderen fünf sind mit transsylvanischer Erde gefüllt. Von seinem Fenster aus sieht der eingesperrte Hutter die Kutsche mit den Särgen aus dem Burghof fahren. Es folgt eine komplexe Parallelmontage, die sich 30 Minuten lang der Schiffspassage des Vampirs widmet und zugleich zeigt, wie Hutter sich gleichsam über Stock und Stein nach Hause durchschlägt.
Ebenso eingeflochten sind Geschehnisse in Wisborg: Der verrückte Makler Knock (Alexander Granach als der Renfield des Romans), der das Geschäft eingefädelt hatte, harrt voller Ungeduld auf den "Meister" Orlok. Und Ellen wartet, von Sehnsucht wie von düsteren Vorahnungen geplagt, am Meer auf Hutters Wiederkehr, was eigenartig ist, weil sie ihren Mann ja auf dem Landweg erwarten müsste. Murnau kam es offenbar primär auf Stimmungen an – das Bild Ellens neben Friedhofskreuzen am Meeresstrand ist unübersehbar von Caspar David Friedrich inspiriert. Dieses erzromantische Tableau wird übrigens mehr oder weniger auch von Robert Eggers für die Neuversion übernommen.
Die Atribute des Blutsaugers weichen den Allegorien des Todes
Die versprochene "Symphonie des Grauens" wird vor allem in diesem mehrsträngigen Abschnitt erfüllt, dessen suggestiver Rhythmus einzigartig ist und der von Orloks Schiff mit geblähten Segeln wie von einem musikalischen Kopfthema zusammengehalten wird. Abweichend von Stokers Roman bringt der Graf auf seiner fatalen Reise eine Schar von Ratten mit nach Wisborg. Die Pest breitet sich in der Hafenstadt aus. Die Attribute des Blutsaugers werden vernachlässigt, Orlok ist jetzt eine Art mittelalterlicher Sensenmann, eine Allegorie des Todes. Bis 1919 wütete noch die Spanische Grippe in Europa, die hier offenbar verarbeitet wird.
Das von Stoker etablierte Arsenal der Vampir-Gegenmittel: Knoblauch, das Kreuz, der ins Herz gerammte Holzpflock, bei Murnau sind sie weggelassen. Und Draculas sonst mit allen Weihwassern gewaschener Gegenspieler van Helsing (hier: Bulwer) spielt nur eine marginale Rolle. Allein Ellen – eine gegenüber dem Roman deutlich aufgewertete Figur – weiß, wie dem "großen Sterben", das schon im ersten Zwischentitel angekündigt wurde, beizukommen ist: Sie muss sich opfern, indem sie den Vampir bis zum ersten Hahnenschrei in ihrem Schlafzimmer festhält. Ellen schafft es, die Machtverhältnisse umzukehren, Orlok verfällt nun ihr.
Der Hahn kräht, die Sonne geht auf, der Vampir – der seine Omnipotenz verliert und hier wieder dem triebhaften Grafen stokerscher Prägung gleicht – verbrennt im Tageslicht, nur noch ein Rauchwölkchen bleibt von ihm übrig. Ellen stirbt in den Armen des herbeigeeilten Hutter, die Stadt ist von der Pest befreit. Das Motiv des zu Asche zerfallende Blutsaugers kommt bei Stoker nicht vor – aber in den späteren Filmen der Hammer-Studios mit Muster-Dracula Christopher Lee wurde die Vampirversengung übernommen. In Tod Brownings erster autorisierter Roman-Adaption von 1931 wird Bela Lugosi noch mit dem klassischen Holzpflock unschädlich gemacht.
Kinski ist gruselig, Schreck gruseliger
1979 taucht das "Phantom der Nacht" in Werner Herzogs Remake noch einmal auf. Der zweite "Nosferatu" überzeugt mit einigen Naturaufnahmen, und auch die Schauspielerleistungen sind insgesamt besser als bei Murnau (Bruno Ganz, Isabelle Adjani). Kinski ist gruselig, verfehlt aber durch seine starke physische Präsenz Max Schreck einmalige Gespensterhaftigkeit. Vor allem aber schleift Herzog dem Vorgängerfilm die Ecken und Kanten ab, indem er szenische Übergänge einfügt, surreale Sprünge kittet, Widersprüche aufhebt und seinen Figuren notorisch Erklärungen in den Mund legt. Das wirkt geschwätzig, unfilmisch.
Zwar enthält der "Nosferatu" von 1922 noch relativ viele Zwischentitel (In "Der letzte Mann" sollte Murnau dann 1924 ganz ohne Text auskommen), aber das Entscheidende liegt im Ur-"Nosferatu" doch immer in den Blicken und Gesten, in der Inszenierung und in der Bildgestaltung. Ein stetig wiederkehrendes formales Motiv ist der Torbogen, der dem Buckel des Vampirs entspricht. Deutlich ist Murnaus Nähe zur Malerei zu spüren.
Die Nähe zur bildenden Kunst verbindet ihn mit dem zehn Jahre jüngeren Alfred Hitchcock, der zunächst als Regieassistent tätig war und 1924 für eine UFA-Produktion von London nach Babelsberg reiste, wo er Friedrich Wilhelm Murnau bei der Arbeit an "Der letzte Mann" beobachten konnte. Eine prägende Begegnung. Als Dialogmuffel reihte sich Hitchcock in der Murnau-Tradition ein, wobei wir natürlich nicht wissen können, wie sich der schon 1931 mit nur 42 Jahren verstorbene Deutsche in der Tonfilmzeit entwickelt hätte. "Im Schatten des Zweifels", Hitchcocks sechster Hollywoodfilm, weist erstaunliche formale und strukturelle Parallelen zu "Nosferatu" auf. Der im Titel zitierte "Schatten" prägt auch die kontrastreiche Fotografie des Thrillers, der von einer jungen Frau erzählt, die ihren Onkel, den sie eigentlich bewundert, als gesuchten Frauenmörder enttarnt. Der Biedermeier-Idylle Wisborgs in "Nosferatu" entspricht das blitzsaubere kalifornische Santa Rosa in Hitchcocks Film.
Parallelen zwischen Hollywood und Babelsberg
"Im Schatten des Zweifels" beginnt indes mit einem Schwenk über eine Schrotthalde in Philadelphia. In der Straße, in der Charles Oakley (Joseph Cotten) wohnt, spielen Kinder auf der Straße Baseball, während der Mann, den düsteren Blick zur Decke gerichtet, in seinem Pensionszimmer am hellichten Tag auf dem Bett liegt, starr, die Hände zusammengelegt, fast wie ein Toter im Sarg. Die Polizei ist hinter ihm her, aber Oakley kann sich aus dem Staub machen. Auf die Idee, er könnte der Familie seiner Schwester in Santa Rosa einen Besuch abstatten, ist nicht nur Charles gekommen, sondern auch seine vom Alltagstrott gelangweilte Nichte Charlotte Newton (Theresa Wright) – Charlie genannt. In "Nosferatu" gibt es telepathische Schuss-Gegenschuss-Einstellungen über große Distanzen zwischen Thomas und Ellen Hutter. Auch bei Hitchcock wird, eher im Scherz, von "Telepathie" geredet: So ein Zufall, dass zwei "Charlies" an weit voneinander entfernten Orten denselben Gedanken hatten!
Wie Murnau zeigt Hitchcock, allerdings nur kurz, eine Überfahrt: Onkel Charlie verbirgt sich im Zug nach Santa Rosa tagsüber im Liegeabteil hinter einem Vorhang, um nicht erkannt zu werden. Für die Zugeinfahrt in der Station lässt Hitchcock dicken schwarzen Rauch aus dem Schornstein der Lokomotive qualmen, ein tiefer Schatten legt sich über den Bahnsteig, an dem die Newtons warten. Im Gespräch mit François Truffaut bestätigte Hitchcock dessen Interpretation: "Dieser schwarze Rauch lässt sich so übersetzen: Jetzt zieht der Teufel in die Stadt ein." Nach einigen ungetrübten Tagen mit dem Gast tauchen zwei verdeckte Ermittler auf, die Charlies Vertrauen in ihren Onkel ins Wanken bringen. Als auch Charles dämmert, dass sein Versteck bedroht ist, kommt seine brutale Ader durch. Besonders beängstigend für Charlie: seine Hände (mit denen der Mörder offenbar seine Opfer erwürgt).
Am Ende weiß die junge Heldin, was sonst niemand in der fünfköpfigen Durchschnittsfamilie ahnt: Der geliebte Onkel ist der gesuchte Witwenmörder – und er hat in Santa Rosa auch schon ein neues, frisch verwitwetes Opfer ausgemacht. Mehrmals versucht Charles, seine Nichte umzubringen. Der letzte Mordversuch – bei dem er selbst aus der Tür eines anfahrenden Zuges fällt und von der entgegenkommenden Lok zermalmt wird – lässt sich an wie die Umarmung eines Liebespaars. Gewalt und Leidenschaft sind Zwillinge.
"Im Schatten des Zweifels" wurde mitten im Zweiten Weltkrieg gedreht. Die Figur des Onkels, des hinterlistigen Feindes im trauten Heim, lässt sich als propagandistische Warnung an die Adresse der Heimatfront lesen. Der Krieg findet in der Handlung keine Erwähnung, legt sich aber wie ein Schatten von Paranoia über die Geschichte.
Auch "Nosferatu" erzählt nur indirekt vom Krieg – wie die meisten auf ein großes Publikum zugeschnittenen Filme des Weimarer Kinos von den seelischen (weniger den materiellen) Auswirkungen des Ersten Weltkriegs erzählen. Dass das Grauen in der zur umfassenden Krise des "großen Sterbens" ausgeweiteten Vampirstory nichts mit den Fronterlebnissen zwischen 1914 und 1918 zu tun haben sollte – Murnau kehrte selbst traumatisiert aus Kriegsgefangenschaft nach Deutschland zurück – ist aber höchst unwahrscheinlich.
Das Grauen bekriecht uns: In "Nosferatu" und im Hier und Jetzt
Filme blicken nicht nur zurück, sondern auch voraus, diese These liegt Siegfried Kracauers 1947 erschienene "psychologische Geschichte des deutschen Films" – das einflussreiche Buch "Von Caligari zu Hitler" zugrunde. Unverkennbar erweist sich Orlok nach seiner Ankunft in Wisborg als Tyrann, der eine Vielzahl von Menschen in Angst und Schrecken versetzt. Gerade unter diesem Aspekt fährt uns der Film über 100 Jahre nach seiner Uraufführung unter die Haut: Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine legt sich die Fratze des Vampirs über das Nachrichtenbild eines russischen Präsidenten. Ausgerechnet im Jubiläumsjahr von "Nosferatu" kehrte der Krieg nach Europa zurück, ein Grauen, das uns im Hier und Jetzt bekriecht. Auch wenn die (anscheinend) nicht direkt betroffenen Westeuropäer nach zweieinhalb Kriegsjahren schon um einiges abgestumpft sind. Vielleicht liegt es an der Kriegsmüdigkeit, dass einem bei dem zweiten Remake solche Bezüge weniger in den Sinn kommen.
Wahrscheinlich ist aber: Putins Invasion hat Robert Eggers ebensowenig interessiert wie die Covid-Pandemie – das Pendant zur Spanischen Grippe –, während Murnau die Seuche wie auch das Trauma des Ersten Weltkriegs ganz bewusst aufgriff.
Neben "Das Cabinet des Dr. Caligari" zählt "Nosferatu" für Anton Kaes zu den zentralen Beispielen eines "Kriegsneurosen"- oder "Granatenschock"-Kinos, wie der Germanist und Medienwissenschaftler in seinem 2009 veröffentlichten Buch "Shell Shock Cinema: Weimar Culture and the Wounds of War" ausführt. Die mühevolle Rückkehr Hutters aus den Karpaten liest Kaes als die Heimkehr eines von Kriegsgräueln erschütterten Soldaten, einen Repräsentanten der "verlorenen Generation" (Kaes). Hutter kommt nicht allein, er bringt sein düsteres Alter Ego mit, Orlok, der nun den Platz in Ellens Schlafzimmer beansprucht. Das Kapitel über "Nosferatu" überschreibt Kaes mit "Die Rückkehr der Untoten". Die "Untoten" stehen für die fern der Heimat unbeerdigt und ruhelos irrenden Toten des Krieges, die sich nach einem Grab sehnen, an dem sie betrauert werden können. Nosferatu ist in Kaes' Deutung ebenso Plagegeist wie bedauernswerte Kreatur, die von ihrer nächtlichen Existenz erlöst werden will.
Christopher Walken: das ideale Schreckensgespenst
Gibt es Vergleichbares in späteren Filmen? Für Antworten auf diese Frage begibt man sich aufs dünne Eis der Spekulation. In Michael Ciminos zwischen dem ländlichen Penssylvania und dem Krieg in Vietnam pendelnden Drama "Die durch die Hölle gehen" (1978) spielt Christopher Walken den Vietnam-Veteranen Nick, der nach Kriegsende zurückbleibt in Saigon. Sein Freund Michael (Robert de Niro) sucht und findet den Kameraden in einem Casino der vietnamesischen Metropole. Nick, dem Heroin verfallen, spielt Russisch-Roulette, wohl schon monatelang. Es ist das tödliche Spiel, zu dem Michael, Nick und ihr Kamerad Steven gezwungen wurden, als sie in Vietcong-Gefangenschaft geraten waren. Nick kommt aus dem Teufelskreis des Revolverspiels später nicht heraus, er ist ein Untoter, dessen Spielerglück ans Unheimliche grenzt. Er gewinnt immer, scheint nicht sterben zu können. Doch als Michael, verzweifelt angesichts des apathischen Freundes, selbst eine Runde Russisches Roulette mit Nick spielt, erwacht dieser aus seiner Agonie, erkennt den Freund – und stirbt durch die Kugel.
Abgesehen vielleicht von (dem bei Eggers in einer Nebenrolle auftretenden) Willem Dafoe, der im originellen Horrorfilm "Shadow of the Vampire" (2000) einen Max Schreck spielt, der sich bei den Dreharbeiten zu "Nosferatu" wirklich als Vampir erweist: Wenn jemand DEN modernen Nosferatu verkörpert, dann ist es Christopher Walken. In Abel Ferraras Mafiafilm "King of New York" (1990) gibt er einen Drogenbaron, der anfangs aus der Schattenwelt des Gefängnisses taucht wie aus der Vampirgruft – um in einem apokalyptisch gezeichneten New York wieder sein Unwesen treiben zu können. Regisseur Ferrara hat sich ausdrücklich auf Murnau als Vorbild berufen, in einer Kinoszene flimmert sogar "Nosferatu" über die Leinwand.
Tim Burton, ebenfalls ein großer Murnau-Fan, besetzte Walken in "Batmans Rückkehr" als korrupten Milliardär namens Max Shreck (!), der danach trachtet, Gotham City mittels eines gigantischen Kondensators die Energie abzusaugen und schließlich durch Michelle Pfeiffers Catwoman mit einem Hochspannungs-Kuss erledigt wird, dass die Funken stieben.
"Nosferatu" als komplexes Zeichensystem
"Nosferatu" ist als komplexes Zeichensystem und in seinem dramaturgischen Konzept, das Kausalitäten weitgehend aufhebt, schwerlich mit späteren Filmen vergleichbar. Was wohl auch damit zusammenhängt, dass der Nationalsozialismus das experimentierfreudige Weimarer Kino bald erstickte und das deutsche Nachkriegskino an die Anfänge des fantastischen Films nicht wirklich anknüpfte. In anderen Ländern, etwa in den USA, bildeten sich andere Erzähltraditionen heraus.
Hin und wieder erscheinen außergewöhnliche Horrorfilme, die gewisse Parallelen zu "Nosferatu" erkennen lassen. Etwa Stanley Kubricks Steven-King-Verfilmung "Shinging" (1980), in der eine Kleinfamilie in einem leeren Hotelpalast in den Bergen von Colorado überwintert. Der als Hausverwalter engagierte Familienvater Jack Torrance (Jack Nicholson) wird hier unter dem Einfluss gespenstischer Mächte wahnsinnig und entwickelt Mordgelüste gegenüber seiner Frau und dem kleinen, übersinnlich begabten Sohn. Anders als bei Murnau, Herzog und Eggers ist hier nicht die Frau hellsichtig (während Hutter die Gefahr notorisch weglächelt, stellt sich Ellen der Todesangst und bannt damit den Schrecken), sondern das Kind (Danny Lloyd). Jack Nicholson hat natürlich das darstellerische Format, den arglosen Helden und das Monster in Personalunion zu verkörpern.
Weitere Parallelen zu "Nosferatu" sind die Geistererscheinungen, die Kubrick zum Teil aus der Dokumentarfotografie – die berühmten Zwillingsmädchen von Diane Arbus – herbeizitiert und die "unnatürlich"-symmetrisch komponierten Einstellungen des verrückt gewordenen Torrance. Das hat Murnau erfunden: Eine scharf umrissene Geometrie des Schreckens statt verschwommener Schauerbilder. Auch der sogenannte "Kamerablick", mit dem schon Nosferatu, die vierte Wand einreißend, das Publikum fixierte, findet sich bei Kubrick wieder.
Typisch Nosferatu: viele Särge, lauter Bodenluken, krumme Krallen
"Shining" ist ein Horrorfilm aus dem Kühlhaus, während M. Night Shyamalan 2004 in "The Village – Das Dorf" mit anderen Stimmungswerten operiert. Wie "Nosferatu" beginnt "The Village" in einer heilen Scheinwelt. Statt dem deutschen Biedermeier der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erleben wir dörfliches Leben zur vorletzten Jahrhundertwende. Die Siedlung ist von einem Wald umgeben, den niemand aus der offenbar autarken Dorfgemeinschaft betreten darf. Zu den Hauptfiguren zählen eine blinde und zugleich hellsichtige junge Frau, Ivy (Bryce Dallas Howard), ihr Bräutigam Lucius (Joaquin Phoenix) und der geistig behinderte Noah (Adrien Brody), der an den irren Knock bei Murnau erinnert.
Im Wald hausen die "Unaussprechlichen", die, so geht die Mär, von der Farbe Rot angelockt werden. Kann man von Blutdurst sprechen? Jedenfalls ist im Dorf alles Rote untersagt. Und wer die Dorfgrenze überschreitet, was Lucius gleich am Filmbeginn tut, bringt ebenso die Monster auf den Plan. Man sieht einen der "Unaussprechlichen" dann kurz im Profil, als das unheimliche Wesen kurz an einer Dorftür kratzt: Lange, krumme Krallen, riesenhafte, aber dürre Gestalt – ein Nosferatu-Wiedergänger. Dazu viele Särge, lauter Bodenluken wie auf Orloks Schiff, Ivy reckt die Arme wie die schlafwandelnde Ellen. Noah, der in Ivy ebenso verliebt ist wie Lucius, verletzt den Rivalen mit einem Messer lebensgefährlich. Jemand muss Medikamente besorgen – aus der Stadt jenseits des Waldes, die nur die Dorfältesten kennen. Bevor sich Ivy – in Verkehrung des genderspezifischen Rollenmusters – auf die gefährliche Reise begibt, wird sie von ihrem Vater, dem Dorf-Oberen Walker (William Hurt), aufgeklärt: Es gibt keine "Unaussprechlichen", die Monster sind kostümierte Älteste, die mit dem Mummenschanz die Dorfgesellschaft vor der bösen Außenwelt schützen wollen.
Bei Shyamalan ist die Geisterwelt reine Erfindung. Eigentlich. Trotzdem muss sich Ivy dem Phantom im unheimlichen Wald stellen. In "The Village" gibt es mehrere Twists, mit denen die Regie das Publikum an der Nase herumführt, um es schließlich auf den Boden nüchterner Tatsachen zu bringen: Das Dorf ist ein Modellprojekt, eine Schutzblase "guter alter Zeit" in einer von Gewalt und Techno-Hype erschütterten Jetztzeit. Im "Village" wird am Ende alles einer rationalen Erklärung zugeführt. Als müsste uns das Kino schonend auf die an Magie arme Wirklichkeit da draußen vorbereiten.
Aggregatzustände zwischen Alltag und Delirium
In den Filmen von Christian Petzold ist alles EINE Wirklichkeit: Imagination und Wachzustand, Vergangenheit und Gegenwart, das Zärtliche und das Monströse fließen in seinen Geschichten zusammen. Die Titelheldin von "Undine" (2020) ist Nymphe und Stadthistorikerin zugleich. In "Transit" (2018) bevölkern Flüchtlinge des Zweiten Weltkriegs das moderne Marseille. Da ein Filmbild sich ohnehin abhebt von der sogenannten Wirklichkeit, sind alle Aggregatzustände zwischen Alltag und Delirium denk- und darstellbar. Petzolds magischer Realismus ist sicher anders als der von Murnau, aber im Bekenntnis zum eher sachlich fotografierten Bild als Kernelement von Erzählkino doch mit post-expressionistischen Filmen wie "Nosferatu" verbunden.
Dem Horrorgenre am nächsten kommt Petzolds "Yella" (2007), in dem die Titelfigur versucht, sich in den letzten Lebenssekunden nach einem Unfall ein besseres Leben zu erträumen. In diesem Traum, der fast den ganzen Film füllt, heuert Yella (Nina Hoss) als Assistentin eines Vermittlers für Risikokapital (Devid Striesow) an. Sie wird zu seiner Geliebten, dann zur Komplizin seiner windigen Transaktionen. Aus Liebe überspannt sie den Bogen, erpresst auf eigene Faust einen Unternehmer, der sich daraufhin das Leben nimmt. Ein monströser Traum vom Glück. Yella erkennt ihre Grausamkeit und schließt mit ihrem Leben endgültig ab.
Aber wie verhält es sich mit dem traurigen Grafen Orlok, der zuerst nur Gesellschaft will, ein bisschen Blut und eine Immobilie im fernen Wisborg? Wissen denn die Ungeheuer, dass sie Ungeheuer sind?