Die meistgestellte Frage an den Bildhauer Tony Cragg lautet, mit welchem Material er denn am liebsten arbeite. Holz? Ton? Bronze? Mitunter kommt dann die überraschende Antwort: "Mit Hirnmasse." Denn sein wichtigstes Material sei das menschliche Vorstellungsvermögen. Es gehe ihm um die Idee, nicht um das Material, in dem sie ausgeführt werde. Schließlich sei er kein Kunsthandwerker, sondern Künstler.
Heute wird Cragg 70 Jahre alt. Der gebürtige Liverpooler hat es nach ganz oben geschafft, das Ranking "Kunstkompass" sieht ihn auf Platz acht der weltweit einflussreichsten Künstler. Er war Documenta-Teilnehmer und Direktor der Kunstakademie Düsseldorf. Er ist Turner-Preisträger und Commander of the British Empire. Man hat ihn schon zu Lebzeiten auf einen Sockel gehoben. Aber was für ein Mensch ist er eigentlich?
"Sie erleben mich: ein etwas nervöser Typ, sich selbst widersprechend. Es ist eine innere Unruhe, die mir eigen ist." So beschreibt er sich selbst im Gespräch. Außerdem sei er "weichherzig" - er könne schlecht Nein sagen. Englische Höflichkeit. Obwohl er seit 1977 in der alten Industriestadt Wuppertal in Nordrhein-Westfalen lebt, ist er immer noch Engländer. Er spricht Deutsch mit kleinen Fehlern und ziemlich starkem Akzent. "Meine Träume sind in schlechtem Deutsch", gesteht er.
Als kleiner Junge war er fasziniert von Fossilien, die er in England mit seinem jüngeren Bruder selbst aus dem Kies ausgrub. "Wir haben ein Hobby draus gemacht, sind mit den Fahrrädern los und haben Fossilien gesucht." Es waren die ersten Formen, die ihn faszinierten. Heute erinnern seine Skulpturen oft an Knollen, Schneckenhäuser oder Amöben.
Ein ganz persönlicher Brexit
In den 70er Jahren studierte Cragg in London. England kämpfte damals mit großen wirtschaftlichen Problemen. "Die Lichter gingen aus, da war kein Strom, da war kein Gas", erinnert er sich. "Rezession, Zahlungsdefizit, Verlust der Kolonien - das waren richtig miese Zeiten." 1976 nahm er einen Lehrauftrag in Frankreich an. Seitdem hat er seinen Wohnsitz immer auf dem Kontinent gehabt.
Cragg unterscheidet sich von vielen anderen Künstlern dadurch, dass er eloquent über seine Kunst sprechen kann. Vielleicht liegt es daran, dass er fast ein Vierteljahrhundert lang an der Kunstakademie Düsseldorf gelehrt hat.
Viele seiner Skulpturen wirken merkwürdig verdreht oder wie von einem gigantischen Luftzug verzerrt. Gefrorenes Wasser, erkaltete Lava. Mancher Betrachter mag darin Gesichter erkennen, doch dies ist dann eher der Fantasie zuzuschreiben - im Grunde ähneln die Arbeiten keiner bekannten Struktur. Genau das ist die Absicht: Cragg geht es darum, völlig neue Formen zu schaffen, denn die alltägliche Umwelt ist für ihn eine Wiederholung des Immergleichen.
Bildhauerei gegen das Banale
Der Mensch ist in seinen Augen unaufhörlich dabei, die Welt zu banalisieren. "Wir machen aus dem Wald eine Wiese und ein paar Jahre später vielleicht einen Parkplatz. Nur die Bildhauerei stellt sich dem entgegen."
In Wuppertal - ausgerechnet in Wuppertal - hat sich Cragg sein persönliches Paradies geschaffen: den Skulpturenpark Waldfrieden. Eine Straße führt in Serpentinen wie im Gebirge zu dem Zaubergarten hinauf. Cragghatte 2006 die einstige Villa eines Lackfabrikanten erworben, eine geschwungene anthroposophische Kreation ohne Ecken und Kanten, mit großen Fenstern und fließenden Formen in die Hügellandschaft übergehend.
50 verschiedene Baumarten finden sich hier, sogar ein chinesischer Lebkuchenbaum, dessen Blätter im Herbst tatsächlich nach Lebkuchen riechen. Auf dem ehemaligen Swimmingpool hat Cragg einen gläsernen Ausstellungspavillon errichtet. Dazu kommen die Freiluftskulpturen. Man kann sogar Rehe zwischen den Bäumen vorbeihuschen sehen. "Auf einem Quadratmeter Wald finden sich mehr Formen als in der ganzen Stadt", sagt er. Es ist dieser Dialog von Kunst und Natur, den er als sein Lebenswerk betrachtet.
Am 23. Mai ist Tony Cragg zu Gast in Berlin. Im Palais Populaire spricht er mit Monopol-Chefredakteurin Elke Buhr.