Der Wert sozialdokumentarischer Fotografie wurde erst in den 1960er-Jahren voll anerkannt. 1966 prägte der Fotograf Cornell Capa (der Bruder des berühmteren Robert Capa) den Begriff der "Concerned Photography", die den Blick auf gesellschaftliche Missstände lenken und politische Veränderungen anstoßen will.
Diese ausdrücklich parteiische Praxis gab es natürlich schon vorher, sie geht zurück bis ins 19. Jahrhundert und erreichte einen frühen Höhepunkt in den USA der 1930er, während der Großen Depression, als Walker Evans, Dorothea Lange oder Gordon Parks im Auftrag der US-Regierung die prekären Lage der Landbevölkerung mit der Kamera dokumentierten.
Noch etwas früher, etwa Mitte der 1920er-Jahre, fand Tina Modotti zu einer engagierten Fotografie. Ihre starken Bilder der armen Bevölkerung Mexikos, der revolutionären indigenen Bewegung des Landes und der Gewerkschafts- und Bauernversammlungen bilden den Schwerpunkt der Ausstellung "Tina Modotti – Revolution und Leidenschaft" im Kreuzberger Fhochdrei – Freiraum für Fotografie. Neben ihrem sozialrelevanten Schaffen bestechen in der von Gisela Kayser und Katharina Mouratidi kuratierten Schau aber auch Modottis frühe Blumen- und Pflanzenfotografien oder Aufnahmen von Telegrafendrähten, die wie abstrakte Bleistiftzeichnungen wirken.
Die Kamera fliegt (angeblich) in die Moskwa
Solche Werke zeigen noch den Einfluss des berühmten amerikanischen Fotografen Edward Weston, der Modotti das Handwerk beibrachte und mit dem sie von 1921 bis 1926 auch liiert war. Mit der künstlerischen, formbewussten Fotografie eines Weston wollte Modotti später nichts mehr zu tun haben. "Jedes Mal, wenn der Begriff 'Kunst' oder 'Künstlerin' im Zusammenhang mit meinen fotografischen Arbeiten benutzt wird", erklärte Modotti, "fühle ich mich unwohl, was zweifellos mit der unglückseligen Verwendung dieser Wörter zusammenhängt. Ich bin eine Fotografin, sonst nichts."
Das ändert sich um 1932, als sie nach Moskau geht – und ihre Kamera (angeblich) in die Moskwa wirft. Modotti gibt die Fotografie ganz auf, arbeitet für eine mit der kommunistischen Internationale verbundene Organisation – die Internationale Rote Hilfe (IRH) – als Übersetzerin, Referentin und in geheimer Mission.
Diese schillernde Figur der Kulturgeschichte, die nur 45 wurde, hatte viele Leben. Sie war Schauspielerin, Fotografin, Revolutionärin, kam in Italien zur Welt, lebte in den USA, in Mexiko, der Sowjetunion und wirkte in Spanien während des Bürgerkriegs.
Ein "Italian Girl" in den USA
Geboren wird Assunta Adelaide Luigia Modotti Mondini 1896 im italienischen Udine. Als Zwölfjährige muss sie in einer Seidenfabrik schuften, da ihr Vater nach Amerika ausgewandert ist und seine Frau und die sechs Kinder in Armut zurückgelassen hat. 1913 folgt Modotti ihm nach San Francisco. Sie arbeitet in einer Näherei, beginnt aber gleichzeitig, in einem Laientheater zu spielen. Sie sieht blendend aus, wirkt auf die Männer, darunter der Maler und Dichter Robo Richey. Sie werden ein Paar und heiraten in Los Angeles, gehören bald zur Bohème der Metropole.
1920 sieht Edward Weston Modotti in dem Stummfilm "The Tiger’s Coat". "Die Gehirne und das Vorstellungsvermögen unserer Regisseure sind so beschränkt", schimpft der Fotograf, "dass sie sich ein italienisches Mädchen nur mit einem Messer zwischen den Zähnen und blutunterlaufenen Augen vorstellen können."
Zunächst bucht Weston das hinreißende "Italian girl" als Modell, bald wird sie seine Geliebte. Ihr Mann Richey geht nach Mexiko, Tina reist ihm nach, doch bevor sie ankommt, stirbt Robo an den Pocken. Modotti ist von Mexiko fasziniert, lässt sich 1923 in der Hauptstadt nieder und freundet sich mit Diego Rivera, Alfaro Siqueiros und Frida Kahlo an. Auf einem Modotti-Foto in der Ausstellung ist das Künstlerpaar Kahlo und Rivera zu sehen – bei einem Aufmarsch 1929 in Mexico City. Diego Rivera trat bei der Kundgebung als Redner für die IRH auf. Es handelt sich um eine der wenigen Aufnahmen, die den Künstler bei einer seiner politischen Aktivitäten zeigt.
Bild vom erschossenen Visionär
1926 war Tina Modotti in das Viertel Edificio Zamora gezogen, in dem sich die Zentrale der Kommunistischen Partei Mexikos (KPM) wie auch das Büro der linken Zeitschrift "El Machete" befand. Sie trat bald der KPM bei, die "Symbole der Revolution" – nach einem Artikel von Marti Casanovas – verdichtet die Fotografin in verschiedenen Kompositionen mit Patronengurt, Maiskolben, Gitarre und Sombrero. Bis heute ist Modottis ebenfalls in der Ausstellung präsentierte "Frau mit Fahne" von 1928 ein populäres Grundmotiv für Protestbewegungen geblieben: Eine stolze Frau, halb eingehüllt von dunklem Fahnenstoff.
Am 10. Januar 1929 wurde der aus Kuba stammende Revolutionär Julio Antonio Mella auf offener Straße in Mexico City erschossen – vor den Augen seiner Freundin Tina Modotti, die ihn erst im Spätsommer davor kennengelernt und sich in ihn verliebt hatte. Absurderweise wird die Fotografin der Beihilfe zum Mord beschuldigt. In einer Vitrine mit Dokumenten findet sich eine Fotografie, auf der Modotti beim Verhör durch Polizeibeamte zu sehen ist.
Von ihr selbst stammt das Porträt von Mella auf dem Totenbett, darauf wirkt der Revolutionär friedlich, wie im Schlaf fotografiert. Daneben hängt ein Halbprofil des lebenden Mella – Modotti zeigt den Geliebten als entschlossenen Visionär. Nach seinem Tod erscheint das Bild als Titelfoto einer Extraausgabe von "El Machete". Als Modotti 1942 auf der Fahrt zu ihrer Wohnung in einem Taxi einem Herzanfall erliegt, trägt sie einen kleinen Abzug des Fotos in ihrer Handtasche bei sich.
Idealistin und Menschenfreundin
Ihre letzten Lebensjahre verbrachte Tina Modotti wieder in Mexiko, ab 1939, nach Stationen in Berlin, Moskau, Paris und Madrid. Sie fotografierte nicht mehr. Umso interessanter sind Bilder ihrer letzten Fotoserie aus Mexiko, die nach Mellas Ermordung entstanden waren. Die Fotografin war nach dem Attentat für einige Monate in die Gemeinde Tehuantepec gereist. Zu sehen sind fast nur Frauen, was der Sozialstruktur des Ortes entspricht.
Auf den Märkten von Tehuantepec herrschte (bis in die 1970er) striktes Männerverbot. Anders als ihr einstiger Lebensgefährte und Lehrer Edward Weston gibt es bei Modotti keine Frauenakte, keine ästhetischen weiblichen Posen. Die Fotografin dokumentiert lebendige Alltagssituationen, zeigt bäuerliche Frauen, von ihren Lebensbedingungen gezeichnet, und Mütter, die ihre Kinder zur Arbeit mitnehmen. Die Fotos aus Tehuantepec zählen nicht nur zu den intensivsten aus Modottis Schaffen – es handelt sich auch um die umfangreichste Serie, die sie schuf.
Als Fotografin war Tina Modotti keine Perfektionistin oder detailverliebte Gestalterin. Sie war, als Bildermacherin und in ihrer politischen Arbeit, eine Idealistin und Menschenfreundin. Der chilenische Dichter Pablo Neruda, den sie als Antifaschistin in Spanien beeindruckt hatte, trauerte mit diesen Zeilen um sie:
"Tina Modotti, Schwester,
du schläfst nicht, nein, du schläfst nicht,
vielleicht schläft dein Herz.
Höre die Rose von gestern wachsen,
die letzte Rose von gestern die neue Rose.
Ruhe süß, Schwester"