Künstler und Visionär

Timm Ulrichs wird 80 

Er ist ein Pionier der Konzeptkunst und Meister der Selbstinszenierung. Mit zahlreichen Ausstellungen wird Timm Ulrichs aus Anlass seines runden Geburtstags gefeiert - doch jetzt sind die Museen dicht. Der Künstler bleibt trotzdem gelassen

Als junger Mann erklärte er sein Leben zur Kunst, seither hat Timm Ulrichs Hunderte Ideen entwickelt und umgesetzt: Grafiken, Fotografien Performances, Videos, Skulpturen - oft geistreich, verblüffend, grotesk und witzig. Mit Ausstellungen in Berlin, Kassel, Celle und Worpswede sollte sein 80. Geburtstag an diesem Dienstag (31. März) gefeiert werden, doch jetzt sind die Museen dicht. Timm Ulrichs nimmt die Situation gelassen. "Ich habe die letzten Jahre des Krieges erlebt, das war dramatischer und schlimmer", meint der emeritierte Professor der Kunstakademie Münster. Zurzeit lebt er bei seiner Frau in Berlin. In seiner Wohnung in Hannover hat er keine Küche, vor der Corona-Krise ging er dort täglich zum Essen in sein Stammcafé.

Sein Tagesablauf habe sich aber nicht dramatisch geändert, erzählt Ulrichs am Telefon. Fünf bis sieben Stunden täglich habe er schon vor den Ausgangsbeschränkungen "locker" gelesen, von morgens im Bett an. "Home-Office ist das Modewort geworden, ich könnte auch Bed-Office sagen." Derzeit telefoniert der Künstler außerdem viel, um abzustimmen, wie es mit seinen Ausstellungen weitergeht. Angst um seine eigene Gesundheit hat er nicht: "Ich habe das Leben auch vor der Corona-Epidemie stets als im Risikomodus befindlich gesehen. Ich habe es schon immer so empfunden, dass wir auf einem Vulkan tanzen."

Auf sein rechtes Augenlid ließ Ulrichs Anfang der 1960er-Jahre die Worte "The End" tätowieren - als Abspann für seinen Tod und gleichzeitig letzten Film. Er ließ seinen eigenen Grabstein meißeln und rannte nackt als "menschlicher Blitzableiter" mit einer fünf Meter langen Metallstange auf einem Feld herum. Aus Beton-Abgüssen seines eigenen Schädels schuf er ein "Kopfsteinpflaster". Auf der Kunstmesse in Köln posierte er mit Sonnenbrille, Blindenstock und einem Schild mit der Aufschrift: "Ich kann keine Kunst mehr sehen!"

Die schiere Masse und Vielfältigkeit von Ulrichs unterschiedlichsten Einfällen suche ihresgleichen, lobte die Jury des mit 12 000 Euro dotierten Käthe-Kollwitz-Preises, den der Autodidakt mit abgebrochenem Architekturstudium in diesem Januar erhielt. Ulrichs selbst kokettiert häufig damit, dass andere deutsche Künstler seiner Generation wie Gerhard Richter oder Georg Baselitz international berühmt und reich wurden, während er nach viel versprechendem Beginn leider nicht über die "zweite Liga" hinausgekommen sei.

Immerhin in der Nähe eines Erstliga-Tabellenführers steht sein Werk "Das versunkene Dorf", unweit der Allianz Arena von Bayern München. Dabei handelt es sich um eine Nachbildung der Fröttmaninger Dorfkirche, halb eingesunken in einer begrünten Mülldeponie.

 

Der 2018 entstandene Dokumentarfilm "Der Totalkünstler" von Ralf-Peter Post begleitet den unermüdlichen Schöpfer bei seinen vielzähligen Projekten. Da steht Ulrichs etwa im Nieselregen auf dem Marktplatz der Kleinstadt Einbeck und tüftelt an der Skulptur "Von Null bis unendlich" herum. Gleich nach der Einweihung sei ein Lkw dagegen gefahren und habe den unterirdischen Motor zerstört, stöhnt Ulrichs rückblickend.

Auch die Corona-Pandemie wird sicherlich in die Werke des selbsternannten "Totalkünstlers" Eingang finden, auch wenn er betont: "Ich mache keine tagespolitische Kunst." So findet er es amüsant, dass derzeit selbst Gottesdienste untersagt sind: "Die Bundesregierung vertraut den Versprechungen der Religion offenbar nicht so sehr." Er denkt auch über die leeren Straßen und die unsichtbare Gefahr nach. "Man sieht nur die Folgen, nicht den Erreger, nicht den eigentlichen Feind." Man kämpfe gegen ein Phantom wie Don Quijote gegen die Windmühlen. "Einen Angreifer, der einen physisch attackiert, kann man dagegen durch gezielte Karateschläge niederstrecken", sagt Ulrichs. "Das ist weniger unheimlich."