Als die 20 jungen Männer grölend mit Bierflasche in der Hand in den Zug nach Amsterdam steigen, stehen sofort die ersten Mitreisenden auf, um sich neue Plätze in einem anderen Waggon zu suchen. Musik dröhnt unangenehm laut aus einem Ghettoblaster, eine Bierkiste steht plötzlich mitten im Weg, die jungen Männer – alle tragen sie Deutschlandtrikots – grölen hämisch den Fahrgästen hinterher, die mittags um halb eins keine Lust auf Krawall haben. Auf die Bitte hin, Rücksicht auf die Mitreisenden zu nehmen, brüllt einer nach dem anderen: "Schlecht geschlafen?", "Heul doch!" und "Hol doch den Schaffner!" Das ist der Moment, in dem auch Mütter mit Kindern ihre reservierten Plätze verlassen. In Amsterdam bleiben sie eine Weile in ihrer Gruppe auf dem Bahnsteig stehen, der Ghettoblaster dröhnt weiter, die Männer grölen weiter – sie selbst würden es wohl Gesang nennen –, bis jeder Kenntnis von ihrer Gegenwart genommen hat. Dann ziehen sie, als ginge es darum, Amsterdam einzunehmen, eiligen Schrittes samt Einmarschmusik ("Rescue me" – welch Ironie! – von Bell, Books and Candle) durch den Bahnhof in Richtung Innenstadt.
Zwei Tage später sprechen auf einer Bühne im Königlichen Konzertgebäude der Kurator Chris Dercon, die Anwältin Seyran Ates und der Schriftsteller Simon Strauß über Europa. Ein einziges Mal sind die drei sich einig: Nur deutschen Fußball-Fans falle es leicht zu sagen, sie seien stolz, Deutsche zu sein. Unter dem Titel "Europa: Wir schaffen das!" sind sie als Diskutanten im Rahmen des viertägigen Forum on European Culture zusammengekommen. Das alle zwei Jahre stattfindene Format steht diesmal unter dem Motto "Act for Democracy!". Wissenschaftler, Aktivisten, Künstler (Santiago Serra, Wolfgang Tillmans), Musiker (Shantel), Kreative, Politiker und Denker (Ulrike Guérot, Jan-Werner Müller) aus der ganzen Welt diskutieren, wie nationalistischen und anti-demokratischen Tendenzen entgegengewirkt werden kann. Wenn man sich das rüpelhafte Verhalten dieser kleinen Gruppe deutscher Fußballfans im Ausland ansieht und mit welcher Rücksichtslosigkeit sie Raum für sich beanspruchen, lässt sich leicht daran zweifeln, ob wir es im Großen schaffen, friedlich und respektvoll miteinander zu leben.
Die Panel-Teilnehmer jedenfalls tragen an diesem Abend Lösungsvorschläge vor. Simon Strauß war noch vor wenigen Monaten Auslöser und Zentrum einer heftigen Faschismus-Debatte in den Feuilletons. Nach Erscheinen seines Romans "Sieben Nächte" wurde ihm von Kritikern Nähe zum Faschismus vorgeworfen, sein Roman spiele Nazis in die Hände, war zu lesen. Ijoma Mangold sprach von "lupenreinem Rufmord".
Jetzt steht Strauß in Amsterdam auf der Bühne und hält eine emphatische Rede auf die Kunstfreiheit und Europa. Für ihn ist die Kultur, nach Jacob Burckhardt, die wichtigste Kraft neben Staat und Religion, sie sei grenzüberschreitend, sie berühre Menschen und sie sei die beste Möglichkeit, Europa von der Fixierung auf Identität zu heilen – von einer Weltsicht, die auf persönlichen Erfahrungen basiere. Strauß führt das Theater als Beispiel an, hier lerne man das Anderssein zu verstehen. Europa brauche von der Kultur, Uneinigkeit, Debatten und produktiven Widerstand. Chris Dercon widerspricht ihm, ein neues Europa sei es, was wir brauchen, basierend auf einer Verfassung, Kultur spiele nur irgendwie eine Rolle. Weil auch die Anwältin Ates der Kultur nicht zu viel zutraut, schwingt sich Lars Eidinger auf den Bühnenrand und steuert Erfahrungen bei, die er in den letzten 20 Jahren mit der Schaubühne in verschiedenen Ländern gemacht hat. Kultur veranlasse Menschen zu reisen, sie könne eine Brücke zwischen den Nationen sein, schließlich verstehen wir alle die Konflikte von Shakespeare, nur seien wir noch immer nicht in der Lage diese zu lösen. Die Hoffnung verliere er dennoch nicht, weil endlich auch junge Menschen ins Theater gehen, erzählt er.
In diesen vier Tagen in Amsterdam gab es Reibungen, wo man sich, wie an diesem Abend, mehr Einigkeit beziehungsweise Verständnis für die andere Seite statt Beharren auf der eigenen Position gewünscht hätte. Bisweilen wurde auf der Stelle getreten. Schließlich sind sich alle einig, deshalb war man ja da, dass es um Europa nicht gut bestellt ist. Wo Wahlen stattfinden, sind die Populisten auf dem Vormarsch, Brexit, Trump – es muss etwas unternommen werden. Die bunten Fahnen mit dem Claim "Act for Democracy!" wehten an den Fassaden der beteiligten Kultureinrichtungen friedlich im Wind, während drinnen erst einmal hitzig der Begriff Demokratie auseinandergenommen wurde. In zwei Veranstaltungen sollte der Populist Turn von Experten wie dem Professor Jan-Werner Müller, der Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot und dem Politiker Slawomir Sierakowski erklärt werden, nur fand sich Guérot plötzlich wortwörtlich zwischen den Stühlen und hörte geduldig zu, wie sich etwa um die richtige Definition von Populismus gestritten wurde. Jan-Werner Müller, Professor an der Princeton University, hat 2016 den viel gelobten Essay "Was ist Populismus?" (Suhrkamp) vorgelegt, in dem er die These aufstellt, dass Populismus häufig als demokratisch, gar radikaldemokratisch erscheinen kann. "Er kann bisweilen auch positive Effekte für die Demokratie zeitigen. Entscheidend ist jedoch, dass Populismus an sich nicht demokratisch, ja der Tendenz nach zweifelsohne antidemokratisch ist", schreibt er.
Entscheidend ist, und da waren sich wie gesagt alle einig, dass nach Lösungen gesucht wird. Deshalb hatten bereits Ende März Wolfgang Tillmans, Rem Koolhaas und Stephan Petermannn dazu aufgerufen, Ideen für eine EU-Imagekampagne einzureichen. 400 Bewerbungen sind eingegangen, 34 Teilnehmer wurden ausgewählt, die zum viertägigen Eurolab gemeinsam mit 16 Experten eingeladen wurden. Sechs Gruppen wurden gebildet, die sich mit Themen wie Nationalismus und Demografie befassen sollten.
Vier Tage lang wurde von 10 bis 17 Uhr und von 20 bis 23 Uhr gearbeitet, am Sonntag dann wurden um 16 Uhr die Ergebnisse präsentiert. Während alle anderen Veranstaltungen mäßig bis gut besucht waren, herrschte zur Abschlussveranstaltung im Kulturzentrum De Balie großer Andrang. Tillmans, Koolhaas und Petermann präsentierten die Ideen und Entwürfe ihrer Gruppen, wobei Tillmans gleich zu Beginn darauf hinwies, dass die Teilnehmer kein Briefing erhalten haben.
In der anschließenden Podiumsdiskussion sagte Tillmans: "I don't want to be a one-man campaign." Vielleicht, weil es die Last der Verantwortung von seinen Schultern nimmt. Immerhin musste er sich fragen lassen, was nach dem Brexit von seiner Poster-Kampagne bleibe, die nicht zum Erfolg geführt habe. Das selbstgesteckte Ziel ist jetzt eine erhöhte Wahlbeteiligung bei der Europawahl 2019. In den vier Tagen wurden dafür Strategien und Kommunikationskonzepte erarbeitet, wobei das Ziel wiederum nicht war zu verwertbaren Ergebnissen zu kommen. Die vorgestellten Ideen waren zum Teil nah an den Kampagnen von Tillmans – Koolhaas betonte, dass die Ideen der Teilnehmer nicht editiert worden sind. Vorgestellt werden konnte sich unter anderem eine Netflix-Serie, Zeitungs-Beilagen (etwa in der "New York Times" und in Boulevardzeitungen), Plakate ("One possible past. Many possible futures." Oder: "Trump would love to make a deal with Italy. And Denmark. And France. Divide and conquer."), Instagram-Kampagnen, EU-Gifs und T-Shirts, die Promis (Ronaldo, Reinhold Messner, J.K. Rowling) tragen.
Als es um den Brexit ging, erzählt Tillmans, sei es nicht einfach gewesen, bekannte Persönlichkeiten zu finden, die sich engagieren. Mit Blick auf das Thema Europa-Mode kann man derweil sicherlich etwas entspannter sein, schließlich geben Menschen ein paar hundert Euro aus, beispielsweise für die Etoile-Kollektion von Études, die immerzu fleißig nachlegen. Auch der Mode-Designer Virgil Abloh wurde schon im Europa-Hoodie gesehen.
Am Ende wurde noch eine Idee präsentiert, die Rem Koolhaas als "nasty" ablegte, die aber – so wild und kontrovers wie sie war – auch vom Autorenteam von Jan Böhmermann hätte stammen können. "Deport Europe" heißt das Projekt und man kann es sich vorstellen, Menschen, die im Ausland leben, sollen in das Land zurückgebracht werden, in dem sie geboren wurden. 31.1 Millionen Personen, 382.000 Fahrzeuge, 1.654.829 Mitarbeiter, 114.6 Milliarden Budget, so die Zahlen. Verhaltenes Klatschen aus dem Publikum. Vielleicht braucht es für so eine Idee tatsächlich den prominentesten Satiriker des Landes, der sich auch für Geschmackloses nicht zu schade ist.
Wolfgang Tillmans derweil weiß sehr genau, was 2019 passieren soll. "In einem Jahr soll die Wahlbeteiligung bei 53 Prozent sein", sagt er ein paar Stunden nach der Präsentation. Damit es weitergehen kann, wurde noch vor Ort eine Stiftung gegründet. "Das wäre doch mal was. Europäer interessieren sich für Europa."
Hier können sich die Präsentation des Eurolab und einige Programm-Highlights angesehen werden.