Tierrechtseklat im Kunstmuseum Wolfsburg

Auch Fliegen fühlen

Das Kunstmuseum Wolfsburg muss nach einer Beschwerde ein Damien-Hirst-Werk mit sterbenden Fliegen aus einer Ausstellung entfernen. Ist es verwerflich, echte Tiere zu Kunst zu erklären?

Es gibt Neues aus der Kategorie "Die Absurdität der Kunstwelt“: Das Kunstmuseum Wolfsburg hat eine Verwarnung vom Veterinäramt bekommen, weil es eine Installation zeigen wollte, in der Fliegen herumschwirren. Solche Verwarnungen wegen Tiernutzung in Kunstwerken sind nicht so selten, wie man meinen könnte. Aber dass auch Schmeißfliegen tierrechtsrelevant sind, damit hatte die Direktion des Museums nicht gerechnet: "Wir dachten, Fliegen fallen nicht unter das Tierschutzgesetz", heißt es von Andreas Beitin in der "Braunschweiger Zeitung". Das Werk, um das es geht, ist von Damien Hirst, es entstand 1990 und ist seit über 20 Jahren Teil der Wolfsburger Museumssammlung. Für die vor kurzem stattfindende Ausstellung "Macht! Licht!“ war es aus dem Keller geholt worden. Mittlerweile ist es wieder dorthin zurückgekehrt.

Hirst hatte sich seit Ende der 1980er-Jahre als Teil der "Young British Artist“ einen Ruf als notorisches Enfant Terrible der Kunstwelt erarbeitet. Sein früher Erfolg war das Produkt einer explosiven Mischung aus schockierender Sterilität, glitzernder Morbidität und einer Prise Gottkomplex. Hirst traf einen Zeitgeist, der auch Jeff Koons großgemacht hatte und der an die Pop-Popularität der Warhol-Ära anzuknüpfen versuchte.

Nun ließe sich darüber streiten, wie aktuell Hirsts Kunst heute ist. Sein "For the Love of God“, einst eines der teuersten Kunstwerke der Welt, wirkt heute noch geschmackloser, als es damals schon erschien, es erinnert an Ed-Hardy-Pullis, was nicht verwundert, stammt es doch aus derselben Epoche, die im TikTok-Slang unter dem Titel "Y2K“ schon wieder retro ist. Damien Hirst ist selbst ein wenig in die Jahre gekommen, die einzige Provokation in seinen jüngsten Gemälden mit getupften Kirschblüten liegt in ihrer unfassbaren Belanglosigkeit.
 

Hirsts wohl bekanntestes Werk mit dem poetischen TIitel "The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living" (Die physische Unmöglichkeit des Todes in der Vorstellung eines Menschen, der lebt) von 1991 wirkt heute etwas aus der Zeit gefallen. Beeindruckend ist an der Arbeit neben dem Titel vor allem der extra für dieses Werk an der australischen Pazifikküste aus dem Wasser geangelte Tigerhai, dessen Imposanz allerdings in seiner Natur liegt. Hirsts tote Tiere sind nicht ganz so ekelhaft wie die durch Deutschland tourende "Körperwelten“-Ausstellung der (optischen) Beuys-Kopie Gunter von Hagen. Ein bisschen gruselig sind die Tierkadaver, in Formaldehyd ertränkt, aber schon. 

Es sind bei Hirst keine gehäuteten Menschen ausgestellt, doch die Praxis führt zu einer alten Frage nach der Imitatio, des Nachbildens des Erhabenen in der Natur. Einfach macht man es sich natürlich, wenn man dieses Erhabene nicht nachbildet, sondern schlicht ausstellt, wie es etwa Maurizio Cattelan gerne mal mit Hunden oder Pferden tutEs sei Damien Hirst an dieser Stelle die künstlerische Eigenleistung zugestanden, die der Abstrahierung einiger der Animaux trouvés zugrunde liegt. Schließlich schindet es nicht nur Ekel, sondern auch Eindruck, wenn man vor einem Triptychon oder einer Fensterrose aus Schmetterlingsflügeln steht, die den Glasornamenten in gotischen Kirchen nachempfunden sind. Wie viele Schmetterlinge in so einem Kasten drin sind, könnte eine Schätzaufgabe für einen Kunstrummel sein. Das Kunstmagazins "Arnet News" zählte 2017 die Tiere, die Hirst in seinen Werken bis zu dem Zeitpunkt bereits verarbeitet hat und kam auf etwa eine Million, circa 912 005 davon Insekten und Schmetterlinge.

 


Im Werk "A Hundred Years“ aus der Wolfsburger Sammlung sind die Fliegen nicht aufgespießt, statt durch bereits tote Tiere vollzieht sich der Memento-Mori-Effekt durch das Beiwohnen ihres Todes. Wie Ikarus werden die Insekten vom Licht angezogen, was ihnen zum Verhängnis wird: eine Metapher der Hybris. Das moderne Vanitas-Werk hätte sich daher gut in der Ausstellung gemacht, in der es um die "Macht!“ von "Licht!“ ging. Die Schau, die bis zum 10. Juli lief, widmete sich der Wirkungsmacht künstlichen Lichts, seinem ökologischen Einfluss und seiner Bedeutung für die Moderne. Die Auswahl der Werke war vielfältig, auch wenn die Assoziation von Dan-Flavin-haften Neonröhren nicht fern lag. Hirsts Fliegenfalle, die sich ohnehin in der Sammlung befand, war daher eine willkommene Bereicherung.

Zum ersten Mal war "A Hundred Years“ 1990 neben einem Werk mit dem Titel "A Thousand Years" in der YBA-Ausstellung "Gambler" gezeigt worden, wo nach Erzählungen des Schweizer Superkurators Hans Ulrich Obrists der von Hirst hoch geschätzte Francis Bacon eine ganze Stunde lang davor gestanden haben soll. In dieser zweiten Installation befand sich in einer der Kammern ein abgetrennter Kuhkopf, das daraus fließende Blut sammelte sich an der unteren Kante der Glasscheibe, durch die Museumsbesuchende das Schauspiel der Fliegen, das den Kreislauf des Lebens beschrieb, begutachten konnten – und parallel die Verwesung des Schädels. "A Hundred Years“ kommt ohne den Kuhkopf aus, stattdessen findet sich das Futter für die kleinen Larven in jenem der zwei Kuben, in dem sie auch schlüpfen. Bleiben sie in dieser Hälfte des Werkes, so können sie ihre natürliche Lebensdauer von drei bis vier Wochen erreichen, geben sich die Fliegen jedoch dem natürlichen Zwang hin, zum Licht zu fliegen, so verbrennen sie an den Stäben der elektrischen Fliegenfalle, wie sie oft in der Viehzucht Verwendung findet. Hirst beschreibt sein Werk als Metapher für die von Gott gegebenen Freiheit. Wie im Alten Testament ist diese Freiheit jedoch nur Schein, denn letztlich folgt der Mensch, genau wie die Fliegen, nur dem göttlichen Willen. Dass die Freiheit bei einem Leben im Glaskasten nur darin besteht zu entscheiden, in welcher der beiden Kammern man stirbt, ist zweifelhaft. Was wohl auch der Grund für die von der Tierschutzorganisation PETA erhobenen Anklage ist. Dabei ist Hirst nicht der einzige Künstler, der lebendige Tiere in den Ausstellungsraum bringt, um zu zeigen, wie sie – nun ja – tun, was sie eben tun.

Von Tierbildern zu Kadavern

Seit jeher wurden Materialien tierischen Ursprungs für die Kreierung von Kunstwerken verwendet – sei es in Form von Tempera aus Eiklar, Farbpigmenten aus Insekten oder tierischen Exkrementen, Seide, Leder oder Wolle. Ebenso sind Tierdarstellungen in allen Epochen der Menschheitsgeschichte ein beliebtes Motiv, von den Höhlenmalereien von Lascaux über den Hermelin in Leonardos Porträt Cecilia Galleranis bis zu toten Fasanen in barocken Stillleben und Franz Marcs "Blaue Fohlen“. Das Kunstmuseum Emden widmete den Tieren in der Kunst zuletzt eine komplette Ausstellung. Doch lebende Tiere als Teil eines Kunstwerks zu deklarieren, das einem menschlichen Künstler als Urheber zugesprochen ist, gibt dem Schöpferbegriff eine neue Ebene. In der zeitgenössischen Kunst, in der ja irgendwie alles erlaubt ist, erfreut sich die Praxis konstanter Beliebtheit.
 


Mark Dions "The Library for the Birds of London“, 2018 in der Whitechapel-Galerie gezeigt, oder Nam June Paiks Installation "Mein Kölner Dom" von 1980, zu sehen 2019 in der Berliner Akademie der Künste am Pariser Platz, bringen lebende Tiere in den Ausstellungsraum, ebenso wie der Pilzkönig Carsten Höller, dessen Rentierinstallation 2010 im Hamburger Bahnhof durch alle Feuilletons hinweg gefeiert wurde. Auch Pierre Huyghe ist an dieser Stelle zu nennen. Bei letzterem wird immerhin wiederholt betont, dass die Tiere artgerecht ausgestellt werden. Aber ist die Praxis an sich noch zeitgemäß, wenn andernorts zunehmend betont wird, dass Kunst eben nicht autonom, eben nicht von dem Lauf der Welt unabhängig ist, und Kuratorinnen mit holistischem Ansatz versuchen, komplett recyclebare Ausstellungen zu konzipieren?

Während wir also selbstverständlich unsere Seitan-Burger bestellen und Hafer-Cortado trinken, sehen wir uns ebenso selbstverständlich Kunstwerke mit lebenden oder toten Tieren an. Konsequent ist das nicht und auch das Argument der Autonomie der Kunst scheint etwas zu durchgekaut, um es wieder einmal zu bringen. Dabei können Tiere Teil von Kunst sein und trotzdem ihre Freiheit genießen. Das beweist etwa das Projekt "BeeDAO“ des in Berlin ansässigen Zentrum für Kunst und Urbanistik, das zurzeit auf der Documenta Fifteen zu sehen ist. Im besten Fall ist damit sogar der Natur geholfen – Kunst für die Umwelt, das ist doch sowieso im Trend.

Deshalb an dieser Stelle nur halb ironisch ein Vorschlag: Wie wäre es denn mal mit Vegan- oder Vegetarisch-Siegeln für Kunstwerke? In anderen Bereichen des Lebens boomt tierleidfreier Konsum. Und der Markt hat in der Kunst schließlich schon immer geregelt.