Tief gekränkt verliess er das Haus ...
Nachdem er diese Worte in sein Notizbuch mit dem Aufdruck "Gedankenblitze" gekritzelt hatte, lehnte sich Rafael Horzon zufrieden zurück. DAS ist mal ein Anfang, dachte er begeistert, übrigens nicht nur für einen Pressetext wie diesen, sondern auch für ein grösseres Werk, ein grosses Werk, ein Buch – für einen Roman!
Seit er vor einigen Jahren mit seinem Erstlingswerk "Das Weisse Buch" einen Überraschungserfolg gefeiert hatte, war es still geworden um den einstigen Liebling der Berliner Intelligenzija. Zu still wie er fand. Einladungen zu Abendessen bei Schriftstellern, Künstlern oder Galeristen, wie sie früher die Regel waren – manchmal hatte er gleich zwei oder drei Einladungen für ein und denselben Abend bekommen – waren erst immer seltener geworden, dann hatten sie ganz aufgehört. Natürlich lag das auch daran, dass er nichts NEUES mehr vorzuweisen hatte. Und wer nichts NEUES vorzuweisen hatte, wurde eben nicht beachtet. Das war ein ganz normaler Vorgang, für den er aufgrund seiner jahrelangen literarischen TATENLOSIGKEIT selber verantwortlich war. Aber dann war dieser Anruf gekommen. Ein AUFTRAG. Gregor Hildebrandt hatte ihn persönlich angerufen und um einen Pressetext gebeten. Dieser Auftrag hatte Horzon in höchste Erregung versetzt, denn hier bot sich plötzlich die lang erhoffte Chance, mit einem Paukenschlag auf die kulturelle Agenda der Hauptstadt zurückzukehren. Die Chance, ein Lebenszeichen von sich zu geben, das die Öffentlichkeit neugierig machen könnte auf MEHR. Es war nicht ausgeschlossen, dass durch diesen Pressetext auch Redakteure grosser Zeitungen wieder auf ihn aufmerksam würden. Es war sogar möglich, dass sein Verlag ihn wieder kontaktieren könnte, um ihn um eine Fortsetzung seines Bestsellers, um eine Fortsetzung des Weissen Buches zu bitten. Ein Comeback, die Rückkehr auf die literarische Bühne war mit einem Mal in greifbare Nähe gerückt!
Sofort nach Gregor Hildebrandts Anruf hatte Horzon sich das besagte Notizbuch mit dem Aufdruck "Gedankenblitze" gekauft, beziehungsweise hatte er es sich, da es ein solches Notizbuch nirgends zu kaufen gab, bei einem Buchbinder in der Schleiermachergasse extra anfertigen lassen. Ein mittelgrosses Büchlein mit leeren Seiten, gebunden in dunkelblaues Leinen, mit goldenem Prägedruck. Die Herstellung sollte erst nur wenige Tage dauern, hatte sich dann aber wegen genereller Überlastung und wohl auch wegen einer schweren Erkrankung des Buchbinders über fünf Wochen hingezogen. Als das Buch endlich fertig war, hatte Horzon es von der Schleiermachergasse zu Fuss in die Torstrasse getragen, wo er wohnte. Dort setzte er sich an seinen Mahagoni-Sekretär und betrachtete das Notizbuch noch einmal zufrieden von allen Seiten. Dann öffnete er es langsam, wobei es im Buchrücken leise knisterte und knackte, legte es vorsichtig auf den Schreibtisch und strich noch einmal mit dem Handballen über den Mittelfalz, um das Papier für die erste Eintragung zu glätten, nahm den seit Tagen bereitliegenden Bleistift zur Hand und schrieb die besagten Worte:
Tief gekränkt verliess er das Haus ...
Um einen "Gedankenblitz" hatte es sich bei dieser Eintragung allerdings nicht wirklich gehandelt, denn Horzon hatte fünf Wochen lang Zeit gehabt, an diesem Satz in schlaflosen, durchschwitzten Nächten zu feilen. Ein paar Nächte lang hatte er sich gefragt, ob vielleicht die Formulierung "Tief gekränkt trat er vor das Haus" nicht noch ein wenig klangvoller wäre, sich dann schliesslich aber doch für "Tief gekränkt verliess er das Haus" entschieden. Und nun war es endlich geschafft, der Satz stand schwarz auf weiss auf der ersten Seite seines Notizbuches, ostentativ hingeschludert, um spontan zu wirken, wie es sich für den Geistesblitz eines bedeutenden Autors nun mal gehörte.
Tief gekränkt verliess er das Haus ...
Und jetzt?
Wie sollte der Text weitergehen?
Worum sollte es in diesem Text eigentlich gehen? Um Gregor Hildebrandt natürlich! Aber worum genau? Vielleicht sollte er Hildebrandt einmal anrufen und ihn um Details zu dieser Ausstellung bitten, über die er schreiben sollte. Ja, genau, das wäre wohl angebracht.
Umständlich kramte Horzon sein Telefon hervor und wählte die Nummer des bekannten Künstlers.
"Raaafi, grüss dich, bist du endlich fertig?"
"Fertig? Womit?"
"Mit dem Pressetext, Herrgottnochmal!"
"Ach so, ja natürlich, also, ich bin dran, ich bin dran, ich komme gut voran...", sagte Horzon mit schleppender Stimme und inspizierte dabei seine sorgfältig manikürten Fingernägel.
"Ahhh, seehr gut, denn wir warten hier natürlich schon sehr lange, genauergesagt seit fünf Wochen, und wir müssen diesen Pressetext ja eigentlich VORGESTERN schon an die Redaktionen verschickt haben, das habe ich dir ja auch schon ein paar Mal erklärt! Wieviel hast du denn bis jetzt geschafft, lies doch mal vor!"
"Was vorlesen?"
"Lies doch bitte mal vor, was du bisher geschrieben hast!"
"Ach so, ja gut, warte mal kurz!"
Horzon schlurfte vom Wohnzimmerfenster, aus dem er während des Telefonats gedankenverloren gestarrt hatte, zurück an seinen Mahagoni-Sekretär und kramte lustlos in den Papieren und Büchern herum, die sich auf seinem Schreibtisch in den letzten Jahren angesammelt hatten. Dann nahm er das Telefon, das er währenddessen abgelegt hatte, wieder zur Hand.
"Hallo, Gregor, bist du noch da?"
"Ja, natürlich, was machst du denn?"
"Ich kann es nicht finden ..."
"Was kannst du nicht finden?"
"Das Notizbuch ..."
"Notizbuch? Welches Notizbuch?"
"Ach so, warte mal, in der Schublade, glaube ich ..."
Horzon versuchte, mit der linken Hand die Schublade seines Sekretärs herauszuziehen, doch diese klemmte.
"Gregor, bist du noch da? Die Schublade ist abgeschlossen, ich muss dich kurz mal zur Seite legen, der Schlüssel ist glaube ich in dieser Dose mit den Stiften, Moment ..."
Hildebrandt sagte nichts, doch sein Schweigen, fand Horzon, wirkte irgendwie bedrohlich.
"So, ich habs, hier ist das Notizbuch", meldete sich Horzon nach einigen Minuten zurück.
"Na, da bin ich aber gespannt, dann lies mal vor", grummelte ein hörbar gereizter Hildebrandt aus dem Telefon.
"Ja, also, der Text ist natürlich noch nicht fertig, aber ich fange einfach mal an ..."
"Nur zu, nur zu", knurrte Hildebrandt.
"Also gut", sagte Horzon, "bist du bereit?"
"Ja doch!"
Horzon holte sehr tief Luft, um auf den gleich beginnenden Vortrag einzustimmen, räusperte sich dann noch einmal, holte noch einmal hörbar Luft und sagte dann ganz langsam, wobei er die tiefe, knarzend-nasale Stimme des für seine Thomas Mann-Lesungen berühmten Rezitators Gerd Westphal nachahmte:
Tief gekränkt verliess er das Haus ...
Atemlose Stille folgte.
Nur ab und zu knirschte und knackte es in der Leitung.
Minutenlang.
Irgendwann hielt Hildebrandt es nicht mehr aus, weiter zu schweigen, und um dem vielleicht gleich weiter vorlesenden Horzon nicht zu sehr ins Wort zu fallen flüsterte er nur, fast unhörbar: "Ja ...? Und ...? Weiter ...?"
"Was denn, was weiter...?", flüsterte Horzon zurück.
"Waas? Wie bitte?", flüsterte Hildebrandt, der in diesem Moment endgültig die Fassung verlor, und dessen Flüstern sich merkwürdig überschlug, "das soll ALLES sein?"
Horzon schwieg beleidigt.
"Und darauf habe ich jetzt FÜNF Wochen lang gewartet?", flüsterte Hildebrandt weiter.
"Naja, deshalb rufe ich ja an", sagte Horzon, der fand, dass der Künstler am anderen Ende der Leitung nun doch ein bisschen dick auftrug, mit seiner gespielten Fassungslosigkeit, "deshalb rufe ich doch an, um zu fragen, worum es eigentlich geht, bei der Ausstellung ..."
Hildebrandt, das war seiner Stimme deutlich anzuhören, war nun völlig ausser sich: "Sag mal, Rafael, bist du noch bei Sinnen, das ist doch nun schon das fünfte oder sechste mal, dass du mich deswegen anrufst, wie oft soll ich es dir denn nun noch erklären!"
"Was erklären?", fragte Horzon.
"Also! Zum letzten Mal! Es geht um das Pförtnerhaus unten in meinem Ateliergebäude, da wo ich bisher immer meine Videokassetten gelagert habe ...!"
"Ahaaahhh!", warf Horzon interessiert ein.
"Ja, und in diesem Pförtnerhaus... also dieses Pförtnerhaus wird jetzt zu einem Ausstellungsraum gemacht!"
"Ach so ja, stimmt!", sagte Horzon, der absolut keinen Schimmer hatte, wovon Hildebrandt gerade sprach.
"Der Raum heisst 'Grzegorzki Shows' und die erste Ausstellung wird Robert Schmitt machen!"
"... wird Ro-bert Schmitt ma-chen", wiederholte Horzon, wobei er so tat, als würde er mitschreiben.
"Eröffnung am 1. September... Also in genau einem Monat!"
"Ist gut, Gregor, ist gut, da werde ich mich gleich mal daranmachen, diesen Pressetext zu Ende zu schreiben, dann melde ich mich morgen oder übermorgen zurück, sobald der Text fertig ist!"
"Gut!", krächzte Hildebrandt.
"Und keine Sorge", schloss Horzon, "das ist ja nun wirklich nicht der erste Pressetext, den ich schreibe! Du kannst dich auf mich verlassen!"
Von: Gregor Hildebrandt <hildebrandt.gregor@....com>
Datum: 30. August 2017 04:58:17 MESZ
An: Rafael Horzon <horzon@....de>
Betreff: Dein Pressetext für Grzegorzki Shows
Lieber Rafi,
wir hatten uns hier alle sehr auf Deinen Text zu Robert Schmitts Ausstellung gefreut, und wir hätten ihn wirklich sehr gerne als Pressetext verwendet.
Leider können wir nun nicht länger warten, wir müssen heute früh unsere Ankündigung an die Presse herausschicken.
Der Text, den Du gestern nach zahllosen Erinnerungen an Lucile gemailt hast, ist für diesen Zweck leider ungenügend. Du wirst sicherlich auch selbst verstehen, dass ein Pressetext, der ausschliesslich aus dem Satz "Tief gekränkt verliess er das Haus ..." besteht, wirklich komplett unbrauchbar ist.
Robert Schmitt, und auch ich, haben sehr lange und sehr hart für diese Ausstellung gearbeitet, umso enttäuschter sind wir jetzt, dass wir nun sozusagen komplett ohne irgendeinen Pressetext dastehen.
Wie Robert mir erzählte, habt Ihr Euch ja sogar zum Essen getroffen, damit er Dir näheres zur Ausstellung erzählen kann. Laut Robert hast Du bei diesem Treffen ausschliesslich über Dich selbst gesprochen, über Deine literarischen Grosstaten, die wohl auch schon etliche Jahre zurückliegen, und es war anscheinend nicht möglich, Dir irgendwelche Details zur Ausstellung zu vermitteln.
Umso trauriger macht es mich, dass wir hier nun einen Berg von Spesenrechnungen von Dir auf dem Tisch liegen haben, für Reisen und Arbeitsessen, die angeblich nötig waren, um diesen Pressetext zustande zu bringen, darunter Reisen nach Paris, Budapest und Acapulco, und alleine 7 Abendessen für über 10 Personen im Grill Royal, insgesamt Spesenrechnungen über mehr als 18.000 Euro.
Ich hoffe Du verstehst, dass wir allenfalls die Hälfte dieser Kosten übernehmen können. Ich habe den Betrag von 9.000 Euro soeben per Expressüberweisung angewiesen.
Liebe Grüsse
Dein Gregor
P.S. Ich würde mich trotzdem freuen, Dich am 1. September zu sehen! Um 18 Uhr, Prinzenallee 78-79!