Let's talk about Sex. Müssen wir an dieser Stelle ja, nicht nur weil der Ausstellungstitel "Summer of Love" natürlich (auch) ans Körperliche denken lässt. Und, Geschichtsbewusstsein vorausgesetzt, an die kurze und gewaltige Blüte der Hippie-Kultur im Jahr 1967. Die Künstlerin Melanie Bonajo interessiert sich besonders für dieses Annus mirabilis und seine Auswirkung auf die Gegenwart. So präsentiert Bonajo ihr 30-minütiges Filmporträt "Night Soil – Economy of Love", in der sich esoterische Sexworkerinnen aus Brooklyn als Samariterinnen darstellen. Marge Monko blickt mit einer Wandinstallation auf rund 50 Jahre Antibabypille zurück, ohne zu behaupten, der "Summer of Love" wäre ausgefallen, hätte es das Kontrazeptivum nie gegeben. Einer der Väter der Pille, Carl Djerassi, war überzeugt davon, dass die von San Francisco ausgehende Hippie-Bewegung trotzdem die Welt erobert hätte. "Freie Liebe" war nur ein Nebeneffekt, davon sind auch Kuratorin Katerina Gregos und die neun Künstler der großartigen Ausstellung auf Samos überzeugt. Der "Summer of Love" war das Treibhaus politischer Wirkungen – wie es die "68er" ja zeigten.
Seit 2012 betreibt die private, den Dialog der Kulturen fördernde Schwarz Foundation den Art Space Pythagorion. Die Premierenschau bestritt Harun Farocki, erstmals 2016 wurde eine Gruppenausstellung gewuchtet: für "A World not Ours" zeichnete bereits Katerina Gregos verantwortlich. Mit dem letztjährigen Thema Flucht und Migration traf die Kunsthistorikerin einen besonderen Nerv auf Samos. An der schmalsten Stelle ist die Insel in der östlichen Ägäis bloß 1200 Meter vom türkischen Festland entfernt. 2015 strandeten hier 153 000 Flüchtlinge, und obwohl die Zahlen aktuell rückläufig sind, ist das Lager in Vathy im Nordosten der Insel weiterhin hoffnungslos überfüllt.
Gründe für heutige Krisen – Flucht und Vertreibung, wachsende Armut, die angespannte politische Lage – lassen sich durchaus auf das Jahr 1967 zurückverfolgen. Schließlich waren vor exakt 50 Jahren nicht nur die Hippies los: Der Sechstagekrieg veränderte im Nahen Osten die politische Landkarte. In Gregos' Heimat Griechenland nahm anno 67 die siebenjährige Militärdiktatur ihren Anfang. Und der Vietnamkrieg wollte einfach nicht enden. Aber es gab auch gute Nachrichten: nach Beschluss des britischen Parlaments war ab 1967 Homosexualität (weitgehend) nicht mehr strafbar. Kuratorin Gregos sieht diesmal weitgehend von der Misere ab und wendet sich der Utopie zu. Was haben wir vom Flower-Power-Slogan heute zu halten? Viel! ruft es aus den Räumen des ehemaligen Hotels am Hafen von Pythagorion zurück.
Den Rahmen bildet eine floral geschwungene Loungemöbel-Skulptur des griechischen Künstlers Mikhail Karikis. In den Sitzstufen klaffen Aussparungen für Bücher und vor allem 1967 erschienene Schallplatten von "Sergeant Pepper's" der Beatles bis zu "The Doors". Karikis Environment ausgenommen, tendieren einige Werke zum Infotainment. Ein ästhetischer Mehrwert ist mitunter nicht zu erkennen. Die Außeninstallation der japanischen Designerin Tomomi Itakura erschöpft sich in Wortgeklingel. Da sind Straßenschilderpaare mit Schlagwörtern von 1967 und ihrem angeblichen Pendant von 2017 bestückt: "Hippie" soll zu "Hipster", der 1967er "Whole Earth Catalogue" zum heutigen "World Wide Web" mutiert sein. Wahrscheinlich passt die Installation besser nach San Francisco – wo tatsächlich am dortigen De Young Museum bis 20. August ein Duplikat zu sehen war. In der kalifornischen Metropole nahm die Schau "The Summer of Love Experience: Art, Fashion, and Rock & Roll" vor allem gestalterische und popkulturelle Aspekte in den Fokus. Deutsche Museen ließen das "Summer"-Jubiläum übrigens ganz links liegen.
Auf Samos domieren Kunst und Philosophie. Für die beiden Filme "Our Existence is a Maze" und "What of Our Life" kooperierten der griechische Künstler Nicolas Kozakis und der belgische Kulturphilosoph Raoul Vaneigem. Kozakis präsentiert in existenzialistischem Schwarzweiß nordgriechische Landschaften, der situationistische Denker Vaneigem – seine Zeilen sind den stummen Filmen als Untertitel beigegeben – äußert in eigenwilliger poetischer Sprache scharfe Kritik am Kapitalismus und seiner Lieblosigkeit.
Die Kernthese der Schau stammt von dem Philosophen Michael Hardt (der in einem Video von Johan Grimonprez zu Wort kommt): "Liebe" kann politisch wirken, wenn man sie antifreudianisch begreift. Und anstatt als Kollektiv immer nur mit den Gleichgesinnten zu sympathisieren – Nationalismusfalle! –, sollte man offen für die Fremden sein. So verkürzt kann das naiv klingen. Doch das Handicap liegt eher woanders – in der Sprache, die uns für politische Liebe fehlt. Hardts Ausführungen werden in Grimonprez' Video "Every Day Words Disappear" mit Ausschnitten aus Jean-Luc Godards Filmdystopie "Alphaville" kombiniert. In Godards Zukunftsstadt sind alle auf Liebe und Empathie bezogene Wörter verboten. Jeden Tag verschwindet ein Wort. Umso eindrücklicher ein Clip, in dem Anna Karina ein ihr vollkommen unbekanntes Wort langsam auf der Zunge zergehen lässt: "L'amour".
Was ist "normal", generelles Misstrauen oder Offenheit? Der Künstler Uriel Orlow wartet mit einem schlagenden historischen Beispiel auf: Mit Ausbruch des Sechstagekriegs 1967 bis 1975 saßen 14 Frachtschiffe im Suezkanal fest. In den acht Jahren wuchsen die Crews unterschiedlicher Nationalitäten als Gemeinschaft zusammen. Orlows Installation versammelt Belege der fast vergessenen Koexistenz von Seeleuten, die sogar eine eigene Olympiade veranstalteten. Mit einer himmelblauen Tapete voller maritimer Mischwesen bleibt Orlow beim Suezkanal, auch hier ist der Ausgangspunkt real: Fische aus dem Roten Meer migrieren ins Mittelmeer. Ein Exodus, den – anders als die Flüchtlingsboote vor Griechenlands Küste – niemand aufzuhalten trachtet.