Kein Name, kein Datum. Nur ernste Gesichter von Menschen in förmlicher Kleidung, verewigt auf Foto-Negativen. Die Anonymität der abgebildeten Personen lässt Raum für Vermutungen. Wer war der Mann mit der extravaganten Sonnenbrille, diese dreiköpfige Familie hinter dem Blumenarrangement oder die Frau im lilafarbenen Gewand vor dem himmelblauen Hintergrund?
Die Ausstellung "Studio Rex" im Fotozentrum C/O Berlin erzählt nun die Geschichte des gleichnamigen Fotostudios, das von 1933 bis 2018 in Marseille existierte. Durch das Archiv nicht abgeholter Brieftaschen- und Passfotos ermöglicht die Schau eine individuelle und intime Sicht auf komplexe Begriffe wie Genozid und Immigration. Dahinter verborgen liegen Familientragödien sowie der Kampf um Aufenthaltsbewilligungen, Arbeitsgenehmigungen und Staatsbürgerschaft.
Die Schau führt von Frankreich nach Osten und tief in die Geschichte, mehr als 100 Jahre nach der Gründung der Republik Türkei und dem gleichzeitigen Verstummen über den Völkermord an der armenischen Bevölkerung im osmanischen Reich. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts begann sich das Verhältnis zwischen Armeniern und der osmanischen Staatsführung zu verschlechtern. Während des Ersten Weltkrieges erreichte die Verfolgung und systematische Ermordung ihren grausamen Höhepunkt.
Eine Hochzeit, die nie stattfand
Einige Überlebende flüchteten, darunter auch Assadour Keussayan. Mit nur 17 Jahren landete der spätere Fotograf im Herzen des Marseiller Arbeiterviertels Belsunce, wo er 1933 gemeinsam mit seiner Frau Varsenik und ihren Kindern Grégoire und Germaine ihr Studio Rex eröffneten. Durch dessen unmittelbare Nähe zum Bahnhof und der Einwanderungsbehörde wurde das Haus an der Rue Bernard-du-Bois zur Anlaufstelle für Migrantinnen und Migranten insbesondere aus Nord- und Westafrika.
Zu sehen sind im C/O nebst den teilweise vergrößerten Passfotos an den farbigen Wänden, ausgelegten handschriftlichen Notizen und Polaroids auch die auf Anfrage erstellten Bildmontagen Keussayans aus den sogenannten Brieftaschenbildern. Diese handgefertigten Collagen füllten eine Leere und schufen eine Erinnerung für räumlich voneinander getrennte Menschen: etwa an ihre Hochzeit, die in Wirklichkeit nie stattfand. Im letzten Raum findetet unter anderem eine Auswahl von Grégoire Keussayans Studiofotografien ihren Platz.
Vor rund zehn Jahren übernahm der französische Sammler Jean-Marie Donat einen Großteil des umfangreichen Archivs mit Zehntausenden von Fotos und Negativen, die im Atelier zwischen 1966 und 1985 aufgenommen wurden. Ausstellungen dieser Serien wurden bei den Rencontres de la photographie in Arles, im Kulturzentrum Le Centquatre in Paris und bei der Triennale für Fotografie in Hamburg gezeigt.
Fotostudio in jeder Tasche
Die Relevanz und Popularität von Fotostudio-Besuchen, auch als gesellschaftliches Ritual für besondere Anlässe, ist in Zeiten von Passfotoautomaten an jedem Bahnhof und Smartphones in allen Hosentaschen kaum mehr vorstellbar. In einem separaten Ausstellungsraum bietet der Abschnitt "Where have all the studios gone?" einen Exkurs in die Geschichte und das Verschwinden lokaler Unternehmen in Berlin: am Beispiel des 1885 gegründeten und ab 1945 in Kreuzberg beheimateten Studios Mathesie.
Die Ausstellung "Studio Rex", kuratiert von Boaz Levin, Co-Programmleiter der C/O Berlin Foundation, und Jean-Marie Donat, eröffnet eine alternative Perspektive zu den oft stereotypen und negativen medialen Darstellungen von Migration. Durch eine Vielzahl an Porträts, offiziellen Passfotos und inszenierten Studioaufnahmen wird eine tiefgehende Verbindung von persönlichen und historischen Erinnerungen geschaffen. Die ursprünglich nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Fotografien kommen nun in einem neuen, künstlerischen Kontext doch noch zu einem großen Publikum - und kehren durch den Verkauf von Postkarten im Ausstellungsshop in den Besitz von Privatpersonen zurück. Das zeigt die Mechanismen unserer zeitgenössischen Bildzirkulation. Und hält gleichzeitig die Geschichten, für die diese namenlosen Menschen stehen, lebendig.