Als der Krieg ausbrach, war Tatiana Kochubinska mitten in den Vorbereitungen zu einem großen Ausstellungsprojekt. Im Juni wollte sie als Kuratorin in der ostukrainischen Millionenstadt Dnipro das internationale Kunstprojekt "Conversations" von Dejan Kaludjerovic für die Ukraine umsetzen. Kinder aus verschiedenen Orten sollten über Ängste und Wünsche sprechen. Die Klanginstallationen mit den Stimmen der Kinder sollten Wege eines friedlichen Miteinanders bei aller Verschiedenartigkeit aufzeigen. "Ich hatte große Pläne", sagt die 36-Jährige aus Kiew. Ihre Träume zerplatzten am 24. Februar mit dem russischen Angriff auf die Ukraine. Genau wie die der 29-jährigen Künstlerin Alina Bukina.
Die beiden Frauen stehen etwas verloren vor dem Karlsruher ZKM. Das Medienkunstzentrum hat sie als Stipendiaten aufgenommen. So wie drei weitere Künstlerinnen aus der Ukraine und einen aus Russland geflüchteten Medienkünstler. Sie erhalten für ein halbes Jahr monatlich 1000 Euro, eine Unterkunft und einen Raum zum Arbeiten. "Das ist eine große Chance", sagt Zeichnerin Alina Bukina, die sich mit filigranen Ein-Linien-, Gesichts- und Sketch-Serien einen Namen machte. Sie hat all ihre Arbeiten zurückgelassen. An einem sicheren Ort, wie sie hofft. Den Aufenthalt in der Fremde will sie nutzen, um ukrainische Kunst und Künstler bekannt zu machen. "Ich helfe dabei auch meinem Land."
Das ZKM unterstützt schon länger politisch bedrohte Künstler und arbeitet mit Artists at Risk zusammen. Das Netzwerk vermittelt Gastaufenthalte an Kulturinstitutionen. International haben mehr als 300 Einrichtungen darüber Hilfe angeboten, in Deutschland sind es aktuell 35, darunter neben dem ZKM das Haus der Kunst in München sowie die Kunstvereine in Stuttgart und München. 50 weitere Institutionen werden über eine Kooperation mit dem Goethe-Institut erwartet. Über 600 Kulturschaffende aus der Ukraine und 240 oppositionelle Kunstschaffende aus Russland und Belarus haben seit Kriegsausbruch bei Artists at Risk um Hilfe gebeten.
Nothilfeprogramm soll Kulturschaffende stützen
Etwa 20 Gastaufenthalte wurden bis jetzt bundesweit über das Netzwerk realisiert. Doch die Zahl ukrainischer Gastkünstler dürfte weitaus höher sein. Vieles läuft über private Kontakte, Kooperationen oder andere Programme. So greift das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia in Bamberg zwölf ukrainischen Künstlern für fünf Monate mit 1500 Euro unter die Arme. Hilfe bieten auch über 70 Theater und Kulturinstitutionen in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Liechtenstein, darunter das Badische Staatstheater Karlsruhe, das Berliner Ensemble, das Düsseldorfer Schauspielhaus und das Thalia Theater Hamburg.
Das Hamburg Ballett John Neumeier hat bis Ostern zehn ukrainische Kinder zwischen 6 und 15 Jahren aufgenommen. Eine Aufnahme von zwölf weiteren Kindern wird erwogen. "Seien Sie sicher, dass wir alles tun werden, um diesen Menschen zu helfen", sagt Ballett-Chef Neumeier. In der Stuttgarter Cranko-Schule sind 16 Kinder aus der Ukraine untergekommen. Ins Staatsballett Berlin zieht es Tänzer aus Russland und der Ukraine. Intendantin Christiane Theobald zählte vor Ostern 200 Anfragen. "Die Tänzerinnen und Tänzer brauchen Gelegenheiten, um zu trainieren", sagt sie. Das soll ermöglicht werden.
Das Sprengel Museum Hannover bietet ukrainischen und russischen Kulturschaffenden mit einem Instagram-Takeover eine Plattform unter dem Hashtag #takeover. Der Bundesverband Schauspiel (BFFS) hilft mit anderen über new-start.media bei der Jobsuche. Und für geflüchtete Medienleute aus der Ukraine, Belarus und Russland gibt es von Staatsministerin Claudia Roth (Grüne) eine Million Euro Soforthilfe. Derzeit werden Möglichkeiten geprüft, Stipendienprogramme für Medienschaffende aufzustocken und neue Projekte zu unterstützen, heißt es aus ihrem Haus.
"Kunst versucht, Wunden zu heilen"
ZKM-Direktor Peter Weibel, geboren 1944 in Odessa und biografisch geprägt vom Krieg und den Folgen, findet: "Krieg und Politik sind zu relevant, um sie dem Militär und Berufspolitikern zu überlassen. Die Kunst versucht, die Wunden zu heilen, welche die Politik und das Militär geschlagen haben." Das ZKM ist mit weiteren Künstlern in Kontakt, sagt der leitende Kurator Philipp Ziegler.
Alina Bukina schätzt sich glücklich, am ZKM arbeiten zu können. Was aus ihrem zurückgelassenen Werk wird, weiß sie nicht. Sie fürchtet, dass es zerstört werden könnte. Noch mehr aber fürchtet sie um die Menschen in der Ukraine, ihren Freund, ihre Familie. Das Grauen dort und die Normalität hier sind für sie kaum in Einklang zu bringen. "Ich fühle mich schuldig, nicht in der Ukraine zu sein", sagt die 29-Jährige aus Saporischschja. "Ich kann den Schmerz nicht beschreiben." Ihre Zeichnungen werden davon erzählen.
Auch Tatiana Kochubinska ist zerrissen zwischen der Dankbarkeit, ohne Angst leben zu können und freundlich aufgenommen worden zu sein, und den Gedanken an zu Hause. Die frühere Kuratorin des Kiewer Kunstzentrums Pinchuk Art Centre wollte schon immer ans ZKM. "Aber doch nicht unter diesen traurigen Umständen." Sie fühlt sich hilflos und macht sich Vorwürfe: Im ostukrainischen Donbass war schon seit 2014 Krieg. Er sei aber erst sichtbar geworden, als der jetzige Krieg an die Grenzen der EU kam. "Wir hätten lauter sein müssen", sagt sie.