Menschengemachte Katastrophen wie der Ukraine-Krieg, die Flüchtlingskrise und die Klimakatastrophe erschüttern den Glauben an humanistische Ideale nachhaltig. Zumal sie "Lösungen" zu erfordern scheinen, die mit unseren moralischen Vorstellungen nicht vereinbar sind. Zeigt die Moderne sich endgültig von ihrer unmenschlichsten Seite?
Unter dem Titel "Humans and Demons" beleuchtet der diesjährige Steirische Herbst dieses Spannungsfeld, das nicht zuletzt durch höchst ambivalente Momente geprägt ist. Ekatarina Degot, die in Moskau geborene Intendantin des Grazer Kunst-Festivals, das zu den traditionsreichsten in Europa zählt, formuliert es im Programmbuch so: "Das Überleben könnte unmöglich werden, ohne eine Grauzone zu betreten, in der die gewalttätigsten und dämonischsten Eigenschaften der Menschheit zum Vorschein kommen".
Diese Grauzonen werden im Ausstellungsprogramm des Steirischen Herbstes in vier Kapiteln untersucht, denen je eine Ausstellung gewidmet ist. So geht es in der Gruppenschau "Demon Radio" um extreme Ambivalenzen von politischen Haltungen. Am Beispiel von "Dr. Jazz" Dietrich Schulz-Köhn (1912 – 1999), der ein früher Jazz-Spezialist in Österreich und zugleich ein überzeugter SA- und NSDAP-Mitglied gewesen ist, wird da die Möglichkeit von widersprüchlichen Gesinnungen thematisiert: Wie kann die Vorliebe zur "Schwarzen Musik" des Jazz mit dem Rassismus des Nationalsozialismus in Einklang gebracht werden? Diese schon absurd anmutende Doppelmoral wird in der Ausstellung dokumentiert und zudem von künstlerischen Beiträgen kritisch gegengelesen.
Eine "dämonische" Verbindung von Musik und menschengemachter Katastrophe
Da ist zum Beispiel der Film "Dark Continent" (2023) von Dani Gal, in dem die prekären Relationen zwischen Musik, Rassismus und Macht zur Disposition stehen. Dazu erinnert Gal an eine Fallstudie aus dem Buch "Schwarze Haut, weiße Masken" (1952), einem Klassiker der antirassistischen Literatur von Frantz Fanon: Der Klang afrikanischer Trommeln löst bei einer weißen Französin psychische Probleme aus – und zwar deswegen, weil diese Musik in den französischen Kolonien unter Verdacht stand, rebellische Signale zu übermitteln und daher verboten war.
Eine "dämonische" Verbindung von Musik und menschengemachter Katastrophe ereignet sich auch in der Soundinstallation "The Cemetery of Melodies Alive" (2023) von Anton Kats. Zu hören sind da fast schon poetisch erzählte, aber auch bedrückende Kindheitserinnerungen aus der ukrainischen Stadt Cherson, die im Juni 2023 nach der Sprengung eines Staudamms durch russische Truppen überflutet wurde und jetzt von der Zerstörung des Kernkraftwerkes Saporischschja bedroht ist.
Diese Narration trifft auf das Stück "Palladium" (1977) der legendären Jazzband Weather Report. Dieser Song besitzt einerseits in der UdSSR so etwas wie Kultstatus, andererseits ist das Element Palladium mit der Hoffnung verknüpft eine sogenannte "Kalte Fusion" möglich zu machen, also eine Kernfusion, die unbedenklich als Energiequelle genutzt werden kann.
Der Moment der Verwirrung als angstvolles Innehalten
Das zweite Ausstellungs-Kapitel "Villa Perpetuum Mobile" stellt Aspekte des alternativ-esoterischen (wenn man so will "anti-modernen") Denkens in den Fokus. Hier dient der Physiker Stefan Marinov (1931 - 1997) als Modellfigur: Der Exil-Bulgare, der später in Graz lebte, rebellierte in seiner Heimat Bulgarien erfolglos gegen die kommunistische Herrschaft, vor allem aber kritisierte er immer wieder Albert Einsteins Relativitätstheorie und arbeitete bis zum Ende seines Lebens an der Entwicklung eines Perpetuum Mobile.
Als seine Experimente endgültig scheiterten, nahm er sich das Leben. Marinovs Nachlass wird in der Ausstellung ebenso gezeigt wie Kunst, die sich mit seinem Denken auseinander setzt. So etwa Michael Stevensons Installation "Strategic-Level Spiritual Warfare" (2014 – 2023): Wie von Geisterhand gesteuert, entscheidet sich da, in welche Richtung zwei Türen aufgehen.
Dieses alltägliche Nichtwissen angesichts unbekannter Durchgänge gewinnt in Stevensons Installation einen symbolhaften Charakter, der Momente der Verwirrung als mulmiges Innehalten ins Spiel bringt. Diese letztlich irrationale Angst lädt der Künstler zudem auf mit der Furcht vor vermeintlich intelligenter Technik, werden seine beiden Türen doch durch modernste Computerprogramme gesteuert.
Die Moderne und ihre desaströse Gewalt
Optionen von Widerstand sollen in der Gruppenausstellung "Submarine Frieda" diskutiert werden. In diesem weniger überzeugenden Teil des Steirischen Herbstes steht eine fiktive Widerstandskämpferin im Mittelpunkt. "Frieda steht für all die anonymen Held:innen der Vergangenheit, die durch den Mahlstrom der Unterdrückung geschwommen sind", verkündet das besagte Programmbuch. Aus den Arbeiten der Ausstellung, zum Beispiel den scheinbar vieldeutigen, naiv-dilettantischen Gemälden von Georg Haberler, ist dies aber kaum ablesbar.
Die Geschichte des Scheitern der Moderne verhandelt schließlich das vierte Kapitel von "Humans and Demons", die Ausstellung "Church of Ruined Modernity". Die Moderne und ihre desaströse Gewalt in Europa wird hier im Minoritenkloster von Graz von Künstlern wie Cyprien Gaillard, Maria Loboda, Meg Stuart und Andrea Büttner reflektiert. Letztere zeigt ihr kluges Video "Karmel Dachau" (2019 – 2023), in dem Nonnen eines Karmelitinnenklosters den Blick aus ihrem Fenster mehr oder weniger lapidar beschreiben, etwa auf die idyllische Begrünung vor ihrer Zelle hinweisen. Diese Beschreibungen lassen dann beinahe vergessen, dass die Nonnen bei diesem Blick aus ihrem Fenster auch auf das benachbarte Konzentrationslager Dachau schauen. Die Verdrängung von Geschichte im Kontext von Religion und Kultur stellt Büttner so beinahe beiläufig, aber dadurch umso dringlicher zur Diskussion.
Wieder einmal gelingt es also dem Steirischen Herbst über aktuelle politische Sachverhalte künstlerisch intelligent und inhaltlich vielschichtig nachzudenken. Ein Besuch in Graz lohnt sich.