Letzte Filme vor dem Sterben

"Ich denke jetzt sorgfältiger darüber nach, was ich mir ansehe"

John F Kennedy und sein Mörder Lee Harvey Oswald auf einem Plakat für den letzten Film, den JFK gesehen hat ("From Russia with Love"). Das Poster wurde von Stanley Schtinter umgestaltet
Foto: Courtesy the artist

John F Kennedy und sein Mörder Lee Harvey Oswald auf einem Plakat für den letzten Film, den JFK gesehen hat ("From Russia with Love"). Das Poster wurde von Stanley Schtinter umgestaltet

Der britische Künstler Stanley Schtinter interessiert sich für die letzten Filme, die berühmte Menschen vor ihrem Tod sahen. Ein Gespräch über Voyeurismus, Netflix und seltsame Zufälle

Stanley Schtinter, wann haben Sie damit begonnen, Filmgeschichte aus einer "Friedhofs-Perspektive" zu betrachten, wie Schriftsteller Alan Moore Ihren Ansatz beschrieben hat?

Ich erfuhr, dass Olof Palme, der ehemalige schwedische Ministerpräsident, beim Verlassen des Kinos ermordet wurde. Dann erinnerte ich mich an die Legende von Ian Curtis von Joy Division, der sich in der Nacht seines Todes Werner Herzogs "Stroszek" ansah. Ich fragte mich, ob es noch mehr Beispiele von berühmten Persönlichkeiten gibt, deren Leben so sehr unter die Lupe genommen wurde, dass der Film zu einem Teil ihrer Lebensgeschichte wurde. Mir kam in den Sinn, dass dies eine alternative Sicht auf das 20. Jahrhundert sein könnte, das Jahrhundert des Kinos. Zunächst wollte ich dieses Konzept schlicht und ergreifend einem Publikum präsentieren — damit es an dem teilhaben kann, was diejenigen, die nicht mehr sehen können, zuletzt gesehen haben —, ohne Erklärung oder Wegweiser, indem ich die Filme einfach vorführte. Aber es ergaben sich Verbindungen zwischen den Filmen und den berühmten Persönlichkeiten, die vorher nicht ersichtlich waren. So sah ich mich gezwungen, darüber zu schreiben.

Ihre Arbeit enthält auch viel Spekulation. Manchmal ist es ganz klar, was der letzte Film war, wenn die Person etwa direkt vor dem Kinogebäude erschossen wurde. In anderen Fällen überhaupt nicht.

Im Fall von John Dillinger können wir ohne jeden Zweifel sagen, dass er das Kino in Chicago verließ, nachdem er gerade "Melodrama Manhattan" gesehen hatte, und dann von der Polizei erschossen wurde. Es gibt hunderte von Zeugen, Fotos. Im Fall von Bette Davis kann nur sie es wissen, und so hatte ich eine Wahl und das Publikum auch. Davis soll während ihres Besuchs beim Filmfestival in San Sebastián kurz vor ihrem Tod nur zweimal ihr Zimmer verlassen haben, bewegte sich aber offenbar durch die spanische Hafenstadt, ohne dass jemand davon erfuhr. Bei einem letzten Abendessen mit dem Bürgermeister flüsterte sie ihm zu, wie schön San Sebastián vom Berg Igueldo aus aussieht. Es gibt keine Aufzeichnungen über ihren Besuch auf dem Berg, aber ich glaube, dass sie den Igueldo in einer ihrer zahlreichen Verkleidungen besuchte. Ich vermute auch, dass sie im Kino, als sie "Waterloo Bridge" erneut anschaute, einen gleichwertigen Ausblick auf ihr Leben und ihre Karriere vorfand. Zu kleinen Rollen als hässliche Schwester verdammt, war sie bereit, den Traum vom Kino für immer aufzugeben. Das Buch ist ein Bericht über die Wahrheit, soweit ich eine (oder mehrere) ausfindig machen konnte. Es ist eine Studie über die Art und Weise, wie historische Narrative geformt und ausgenutzt werden. "Last Movies" lädt sowohl zur Autonomie als auch zur Unterwerfung in einem Raum ein, in dem Dogmen nur zu oft die Imagination beeinträchtigen.

Was meinen Sie mit Dogmen? Dass es eine gewisse kanonische Vorstellung in der Kunstwelt davon gibt, welche Werke auf welche Weise diskutiert werden?

Kulturelles Schaffen mit nennenswerter Reichweite suggeriert vielfach formalen Erfindungsreichtum und soziale und kulturelle Kritik, ohne dass es die etablierte Ordnung tatsächlich in Frage stellt. Das ist für den Geist das, was Junk Food für den Körper ist: Man gaukelt ihm vor, dass er die Nährstoffe bekommt, die er will und braucht. Und das Sich-Berauschen der Kultur am Individuum und seinen Lebensumständen ist einer der Gründe, warum die Kunst so verarmt ist. Mit Dogmatik meine ich auch, was der mobile Bildschirm aus unserem Leben gemacht hat. Die Leinwand: Die Reise zum und vom geteilten Kinoraum, das Erleben der lebendigen Materie des Zelluloids haben eine Wirkung und Magie. Mit Tinder und Netflix zu Hause bleiben, das ist der Tod.

Wie arbeiten Sie? Kristallisieren sich die Konzepte bei Ihnen immer schrittweise heraus wie bei "Last Movies" oder entsteht manchmal zuerst das Konzept und dann die Arbeit?

Meine Arbeit (oder Nichtarbeit) geht immer so. Hüte dich vor dem Künstler, der weiß, was er tut. Man findet später einen Sinn oder auch nicht. Es war enorm befriedigend, mit meinem Desinteresse an diesen Persönlichkeiten konfrontiert zu werden und dem nachzugehen, in einem seltenen Durchbruch der algorithmischen Falle, die einem ja stets mehr von dem gibt, was man ohnehin schon weiß. Wir sollten schreiben, um zu durchbrechen, nicht weil wir etwas mögen oder nicht mögen. Ich hatte keine Wahl, ich musste mich mit diesen Persönlichkeiten auseinandersetzen.

Sie implizieren, dass Sie als Kurator keine Wahl hatten, dass Sie sich auch nicht sonderlich für die Personen interessieren. Aber natürlich haben Sie eine Auswahl getroffen. Warum denn etwa Kurt Cobain und nicht Jimmy Hendrix?

Sehen Sie, um in dieser Auflistung aufzutauchen, muss eine Person in ihren letzten Tagen und Stunden so stark beobachtet worden sein, dass wir wissen, welche Filme sie gesehen hat. Bei Menschen wie Kurt Cobain wird jede ihrer Bewegungen verfolgt. In anderen Fällen ist es eine Situation wie bei John Dillinger, wo der Film Teil der Lebensgeschichte wird, weil er beim Verlassen des Kinos ermordet wurde. Das bedeutet, dass die Informationen zur Verfügung stehen müssen, in der Regel, weil die Kultur eine ungesunde Beziehung zu Berühmtheiten unterhält.

Reproduzieren Sie diese Beziehung denn nicht? Ich fand Ihr Buch wirklich voyeuristisch und unterhaltsam.

Wenn es einen Voyeurismus gibt, dann den des Bildschirms, der auf den Zuschauer zurückblickt und nicht den des Fahrers, der langsam an der Unfallstelle vorbeifährt. Ich parasitiere das Parasitäre.

Haben Sie irgendwelche Lieblingsmomente, die Ihnen bei Ihren Recherchen begegnet sind und Sie nicht mehr loslassen?

Es sind die poetischen und symbolischen Entdeckungen, die keinen unmittelbaren Sinn ergeben, aber anscheinend etwas mehr ergeben, die ich am lohnendsten finde. Im Film "220.000 Years in Sing Sing" geht zum Beispiel ein Telegramm ein, das den Film in eine andere Richtung lenkt und ihn kaskadenartig seinem Ende entgegenführt. Das Telegramm ist genau 50 Jahre nach dem Tag datiert, an dem Fassbinder stirbt, während beziehungsweise kurz nachdem er den Film gesehen hat. Und dann ist da noch John F. Kennedy: Ohne sein Wissen verbringt er seine letzte Nacht mit Picassos Skulptur der zornigen Eule, die über seine Tür wacht. Die Eule in Macbeth steht für eine Vorahnung, für den bevorstehenden Tod des Königs. Und das Anagramm des Namens des mutmaßlichen Attentäters Lee Harvey Oswald? "A Shy Owl Revealed." John F. Kennedys letzter Film war der James-Bond-Titel "From Russia with Love". Er knüpfte sein eigenes Image an das von Bond, um sich zur Präsidentschaft zu verhelfen.

Ihr neues Paradigma, die letzten Filme von Persönlichkeiten als Ausgangspunkt für Ihre Geschichtsschreibung zu verwenden, ist in keiner Weise notwendig. Es macht Ihnen einfach Spaß, oder?

In der Tat. Ich glaube, DJ Gareth Goddard aka Cherrystones hat es kürzlich bei der Buchvorstellung in Bristol am besten ausgedrückt, als er mich als "detective without an objective" bezeichnete.

Denken Sie bei jedem Film, den Sie sehen, dass es Ihr letzter sein könnte?

In seinem Text für das Magazin "Prospect" über mein Buch warf Sukhdev Sandhu die Frage auf: Was wäre, wenn wir jeden Film so sehen würden, als wäre es unser letzter? Vielleicht denke ich jetzt ein bisschen sorgfältiger darüber nach, was ich mir ansehe. Zuletzt habe ich Miranda Pennells "Man Number 4" geschaut, einen Film aus Pixeln, der eine körperliche Reaktion hervorruft. Ich bin sicher, dass dieser Film mich und alle anderen, die ihn sehen, so lange begleiten wird, wie es Leben gibt. Länger.

Das Logo Ihre Plattenlabels purge.xxx zeigt eine verfremdete Ryanair-Totenkopfharfe. Der Tod scheint in Ihrer Kunst insgesamt sehr präsent zu sein. Wieso?

Purge.xxx hat kein Logo, aber Sie verweisen auf ein Bild, das damit verbunden ist: Die gälische Harfe, die sich Ryanair angeeignet hat, die ich wiederum von der Billigfluglinie übernommen habe, wobei ich das gesichtslose Gesicht durch einen Totenkopf ersetzt und den Hintern und die Brüste chirurgisch vergrößert habe. Was dreht sich nicht um den Tod? Alle große Kunst handelt davon — und von der Liebe. Wenn es eine Tradition gibt, von der ich mir wünsche, dass meine Arbeit in ihr steht, dann ist es diese. Es ist sicherlich nicht die vorherrschende zeitgenössische Halluzination von Bier ohne Alkohol, von Kaffee ohne Koffein, von Revolution ohne Revolution. Von einem Leben, das lang ist, aber vom Leben befreit. Bis vor kurzem wurden Lieder fast ausschließlich über den Tod und die Liebe gesungen. Jetzt über Geld. Wie wäre es mit dem neuesten Song von Miley Cyrus, in dem es um den Kauf von Blumen geht? Es handelt sich dabei um ein großartiges Destillat von allem, was falsch ist. Der Song versucht nicht einmal, in seiner Form originell zu sein, es ist ein Disco-Funk-Aufguss, aber mit bösartigem Individualismus statt einer Einladung zum gemeinsamen Tanzen. Die Botschaft: "Ich kann meine eigenen Blumen kaufen ... Ich kann meine eigene Hand halten." Was zur Hölle?

Woran arbeiten Sie jetzt, nach dem großen Buchprojekt?

Mein erster Spielfilm, "Schneewittchen", kommt pünktlich zum ersten Schneefall 2024 in meine Lieblingskinos — und in Konkurrenz zu Disneys Live-Action-Remake. Es handelt sich um eine entzauberte Märchenadaption mit Julie Christie und Hanns Zischler. Der Film wird nur im 35-mm-Format auf die Leinwand kommen und niemals als Stream oder digital verfügbar sein.