Das Regent Hotel am Gendarmenmarkt ist ein Ort der luxuriösen Gediegenheit, die sich gar nicht wie Berlin anfühlt. Marmorboden, Kronleuchter, ein Pianist spielt dezent vor sich hin. Eine perfekte Kulisse, aus der der Fotograf und Filmemacher Stan Douglas sicher etwas Spannendes machen könnte. Den Kanadier, der im Regent zum Gespräch bittet, interessieren Gegensätze und die Politik von Räumen. Nur ein paar Hundert Meter vom Hotel ist seine Ausstellung "Splicing Block" in der Julia Stoschek Collection zu sehen, die sich mit dokumentarischen wie fiktionalen Bildern und der Kraft der Musik beschäftigt.
Vor über 20 Jahren hat Stan Douglas ein ganz anderes Berlin kennen gelernt. 1995 drehte er in Potsdam die Arbeit "Der Sandmann", die sich anhand von Schrebergärten mit der Stadtplanung in der ehemaligen DDR beschäftigte. Ein naheliegender Auftakt zum Gespräch über Gleichzeitigkeit, Utopien und die Vermischung von Wahrheit und Fiktion.
Stan Douglas, nun sind Sie wieder zurück in Berlin. Wie haben sich Stadt und urbane Politik verändert?
Damals sah ich konfliktreiche Umstände. Potsdam stand zwischen zwei Regimes, das versuchte ich in eine visuelle Analogie zu übersetzen. Nun sind all diese Dinge geregelt, ein Großteil der Prekarität jener Periode ist verschwunden, aber viele ihrer Möglichkeiten ebenfalls. Diese Gegend hier um den Gendarmenmarkt herum beispielsweise ist irgendwie verrückt, alles wurde entwickelt, alle dunklen Ecken wurden erhellt, alle geheimen Orte sind verschwunden.
Eine weitere Ihrer frühen Arbeiten sind die "Monodramas", kurze Video-Interventionen, die 1992 in British Columbia spätnachts zwischen den TV-Werbeclips abgespielt wurden und für reichlich Verwirrung sorgten. Könnte eine solche Arbeit heute noch funktionieren?
Ich glaube, die Arbeit ist mittlerweile historisch. Fernsehen funktioniert nicht mehr so wie früher – man konnte von diesen Dingen geschockt sein, weil das Fernsehen in Nordamerika überhaupt nicht so aussah. Die Zeit war sehr stark reguliert – eine halbe Stunde Programm, die ungefähr dreimal von Werbeblöcken unterbrochen wurde. Die Zuschauer entwickelten die Gewohnheit, die Werbung zu ignorieren, obwohl sie sie trotzdem einen gewissen Eindruck hinterließ. Deshalb redet man ja bis heute von "Impressions" - obwohl man eine Werbung ignoriert, hat sie diesen gewissen Effekt. Aber heute gibt es so viele Wege, Fernsehsendungen zu konsumieren und dabei die Werbung zu umgehen, und das Fernsehen hat allgemein gegenüber dem Internet an Bedeutung verloren. Heute sind die "Monodramas" schöne kleine Gedichte, aber sie könnten nicht mehr den gleichen Effekt erzielen.
Welchen Reaktionen riefen sie zur Zeit ihrer Ausstrahlung hervor?
Damals riefen Leute beim Sender an und fragten, was zur Hölle los sei: "Ich schaue fern, um mich zu entspannen." Auf eine komische Art schauten die Leute damals nur um des Fernsehens willen fern. Es war ihnen egal, was sie sich ansahen, solange sie diesen Komfort und den Flow des Fernsehens spürten. Dann kam ich zum ersten Mal nach Frankreich. Ich sollte ähnliche Spots für das französische Fernsehen produzieren, aber das Fernsehen in Europa war so anders: Dinge begannen zu irregulären Uhrzeiten, die Werbung war anders strukturiert. Deshalb musste ich mir etwas Neues ausdenken – und heraus kam "Hors-champs".
In “Hors-champs" sieht man ein im Stil des französischen 60er-Jahre Fernsehens gedrehte Aufnahme einer Free Jazz-Session. Auf die Rückseite der Leinwand werden die Aufnahmen projiziert, die bei einer solchen Aufnahme normalerweise herausgeschnitten werden – beispielsweise Nahaufnahmen von Saxofonisten, die auf ihren Einsatz warten.
Der Ausgangspunkt war das französische Fernsehen und die verborgene Geschichte des Jazz in Frankreich. Free Jazz wurde in Frankreich gewissermaßen fetischisiert – in den 70ern spielte beispielsweise das “Art Ensemble of Chicago" vor tausenden Menschen. Die sozialistische Partei präsentierte Free Jazz-Konzerte als ein Beispiel befreiter sozialer Organisation. Später wurde diese Musik dann zu einem gewissen Grad mit einem Versagen der Linken assoziiert. Viele Jazz-Musiker, die ich damals in Paris traf, wurden geächtet. In den 60ern hingegen gab es diese optimistische Stimmung – "Hors-champs" fängt das ein.
Von Ihnen stammt die im Rahmen unseres postfaktischen Zeitalters äußerst interessante Aussage “Manchmal gibt es mehr Wahrheit in der Lüge als in der Dokumentation.”
Die Menschen trauen der Fotografie heute nicht mehr. Obwohl sie von Anfang an inszeniert und manipuliert wurde und Fotografie an sich ohnehin diese seltsame Komprimierung von Zeit und Raum in eine flache, statische Sache bedeutet, gab es einmal dieses Verständnis, dass sie indexikalisch und dementsprechend wahr ist. Heute ist das anders: Jeder Fotograf muss Verantwortung für sein Bild übernehmen, weil es auf alle möglichen Arten manipuliert werden könnte. Ich ergreife die Gelegenheit, Bilder zu schaffen, die viele Dinge verdichten. In der Dokumentarfotografie kann man nur eine gewisse Menge an Information auf einmal zeigen, und ich erweitere diese Menge durch fiktive Informationen. Das Musikstück "Luanda-Kinshasa" beispielsweise existierte nicht, aber es gab einen historischen Moment, der das Potenzial für eine solche synthetische Kollaboration besaß. Es ist wichtig, nicht zu vergessen, dass diese Dinge möglich waren – Utopie ist möglich, wenn auch nur einen Tag oder ein Jahr lang.
Warum siedeln Sie Ihre Utopien in der Vergangenheit an?
Ich betrachte Wendepunkte, an denen ein bestimmter historischer Pfad eingeschlagen wird. Indem man dorthin zurückkehrt, eröffnen sich einem die anderen möglichen Wege. Anstatt die Zukunft vorherzusagen will ich lieber auf die Vergangenheit zurückblicken, weil sie auf viele Weisen bis heute präsent ist. Wir leben immer noch in den Bedingungen dieser Dialektik. Adorno spricht in der "Negativen Dialektik" über den Rest dessen, was von jeglicher dominanten Form unterdrückt wird – den Teil der Geschichte, der nie weggeht. Obwohl das, was einmal der Berliner Osten war, mittlerweile von westlichem Kapital überdeckt wird, ist er immer noch hier.
J.G. Ballard schreibt im Vorwort zu "Crash": "Die Fiktion ist bereits da – die Aufgabe des Autors ist es, die Realität zu erfinden." Das hat mich an Ihre Arbeit erinnert.
Während die Dinge passieren, versteht man nicht, was sie sind. Man versteht sie erst retrospektiv, deshalb muss man eine Fiktion aus der amorphen Komplexität der Realität machen. Je mehr man versucht, sich an einen Traum zu erinnern, desto mehr verwandelt sich die Erinnerung in einen Versuch, einen Sinn hinter dem Geträumten zu erkennen. Vielleicht war es das, was Ballard damit meinte.
In Ihrer Fotoserie "Disco Angola" kombinieren Sie fotojournalistische Elemente mit klar inszenierten Posen und Settings. Was macht ein Bild Ihrer Meinung nach authentisch?
Meine Intention war, das, was ich in "Midcentury Studio" gemacht hatte, zu erweitern. Für die Fotoserie nahm ich die Rolle eines professionellen Fotografen Mitte des 20. Jahrhunderts ein. Ich wollte das Gleiche mit "Disco Angola" machen, aber schlussendlich wurde es etwas anderes. Ich wollte die Arbeiten auf eine möglichst klare Art zeigen. Sie sind ganz offensichtlich inszeniert und konstruiert, sodass man beginnt, darüber nachzudenken, warum sie so sind wie sie sind.
In der Serie spinnen Sie Verbindungslinien zwischen der Befreiungsbewegung in Angola und dem Aufblühen der Disco-Subkultur in New York. Wie kamen Sie darauf, diese beiden Ereignisse zusammenzuführen?
Die Krux besteht für mich darin, dass sie zur gleichen Zeit stattfanden. Es ist eine seltsame Verbindung. Die angolanische Befreiungsbewegung führte zu einem sechsundzwanzigjährigen Bürgerkrieg, der zum Stellvertreterkrieg des kalten Kriegs wurde. Die Bürger wollten Unabhängigkeit, aber äußere Mächte mischten sich ein. Disco fand in heruntergekommenen Lofts und Hotels in New York statt – die Stadt war gefährlich, aber immerhin fanden die Menschen ihre Utopie in diesen Partys. Aber dann wollte die Musikindustrie mitmischen und ruinierte diese besonderen Räume. Es gibt also diese ästhetische Analogie.
In Ihrem Video "Luanda-Kinshasa" imaginieren Sie ebenfalls eine so nie eingetretene Vergangenheit. Das Video zeigt eine von Miles Davis Album “On the Corner” inspirierte Jam-Session, die Jazz mit Funk und Afrobeat vermischt. Welche Rolle spielt die kulturelle Praxis des Sampling und Remixing in Ihrer Arbeit?
Es ist eine spekulative Fiktion – etwas, das hätte passieren können, aber nicht eingetreten ist. Es gibt diesen egoistischen Grund: Ich wollte es passieren sehen. “On the Corner" ist mein Lieblingsalbum von Miles Davis, deshalb wollte ich mehr. Es gab einen gewissen Punkt in den 70ern, an dem man auf die Idee kam, aus bestehender Kultur neue zu schaffen. Jaques Derrida kombinierte in "Glas" Jean Genet mit Hegel, Musiker machten das Gleiche mit Schallplatten – es passierte alles gleichzeitig. Als DJ bemerkte ich selbst, dass ich neue Musik aus meiner Plattensammlung machen konnte. Indem ich sie verkürzte, kombinierte und zeitgleich spielte, konnte ich neue Atmosphären und Räume schaffen. Das Modell beeinflusste meine Arbeit schon sehr früh.
Heute sind Remixes ebenfalls sehr beliebt. DJs sind Superstars, Sampling taucht in fast jedem Popsong auf, und im Radio läuft hauontologischer Pop, also Musik, die auf Retro getrimmt, aber zeitlich nicht genau einzuordnen ist.
Die Dinge werden ahistorisch. Als die Vergangenheit noch weniger zugänglich war, lebte sie größtenteils in unserer Erinnerung weiter. Heute ist sie immer bei uns und geht nicht vorbei. Ich bin mir nicht sicher, ob das eine gute oder eine schlechte Sache ist. In den 60ern und 70ern hörte man vielleicht einen Song von Manu Dibango und dachte sich: "Das gefällt mir." Aber wenn man versuchte, es nachzuspielen, erinnerte man sich falsch und erschuf so etwas Neues. Heute kann man sich die gleiche Sache wieder und wieder anhören, bis man sie richtig trifft. Damals gab es noch A&R-Leute, die nach seltsamen Hybriden suchten. Heute suchen sie nur nach Dingen, die sie erkennen. Es wird nach wie vor seltsame Musik gemacht, aber wir hören sie nicht mehr im Pop-Kontext.
Apropros Erkennen: "Luanda-Kinshasa" ist vorgeblich eine sechsstündige Jam-Session, die sich in Wahrheit jedoch aus einzelnen immer wieder neu kombinierten Elementen zusammensetzt. Können Sie genauer erläutern, wie das funktioniert?
Es gibt zwei Songs, "Luanda" und "Kinshasa". Der eine klingt afrikanisch, der zweite eher nach Rock. Darüber werden dann Variationen gespielt, die durch Bearbeitung immer neu kombiniert werden. Es gab zwei Sessions, eine für die rhythmischen Tracks, die andere für die Lead-Tracks. Durch meine Bearbeitung erzeuge ich die Illusion einer kontinuierlichen Jam-Session, obwohl es eigentlich eine Rekombination ist. Nach einigen Minuten bemerkt man, was passiert, aber es wird etwas unheimlich, weil man sich nicht sicher ist, ob man diesen Shot schon mal gesehen und diese Abfolge schon mal gehört hat. Es ist eine Erweiterung dessen, was ich in den 2000ern machte – Geschichten wie "Der Sandmann", die keinen Anfang und kein Ende haben, bei denen es egal ist, wann man den Raum betritt und wann man geht. Das führte zu "Luanda-Kinshasa", einer Arbeit, die man wohl niemals ganz anschauen wird.
Bei der aktuellen Venedig-Biennale zeigen Sie "Doppelgänger" – eine Science Fiction-Geschichte, die hingegen sehr wohl einen Anfang und ein Ende hat, oder?
Auf gewisse Art und Weise. Auf beiden Screens spielt zunächst die gleiche Geschichte. An einem gewissen Punkt gibt es dann eine falsch verstandene Kommunikation. Es gibt diesen Frage-Antwort-Moment: Die korrekte Antwort lautet "live reified time". Aufgrund eines technischen Fehlers werden diese Worte rückwärts angezeigt: "emit deifier evil". In der einen Version der Geschichte bemerkt das Team den Fehler, in der anderen nicht. Deshalb wird die Astronautin in einem Fall wie eine rückkehrende Bürgerin behandelt, die Hilfe benötigt, im anderen als gefährlicher Alien, der verhört werden muss. Die gleiche Person wird aufgrund eines bürokratischen Fehlers komplett unterschiedlich behandelt. Man sieht zwei Geschichten gleichzeitig. Die beiden Screens zeigen Szenerien, die Lichtjahre voneinander entfernt sind.
Die ganze Arbeit ist philosophisch wahnsinnig dicht. Welche Ideen haben Sie zu der Geschichte inspiriert?
Es gibt diese Idee der Quanten-Teleportation. Einstein hielt sie für lächerlich und bezeichnete sie als "spukhafte Fernwirkung“. Wenn man zwei verstrickte Objekte voneinander entfernt und das eine beeinflusst, wird das andere ebenfalls beeinflusst – und zwar unmittelbar, schneller als Lichtgeschwindigkeit. Einstein glaubte, dass die Lichtgeschwindigkeit eine Konstante sei, die man nicht brechen könne, aber es stellte sich heraus, dass die Theorie stimmt.
Sie thematisieren auch die Willkürlichkeit dahinter, wen wir als alien, als Eindringling betrachten.
Genau. Was ist schließlich Nationalität, was ist Staatsbürgerschaft? Wie funktioniert das? Warum erhält eine Person basierend auf dem Stück Papier, das sie besitzt, diesen Status und nicht jenen?
Sie spielen viel mit den Kategorien Wahrheit und Fiktion. Fällt es ihnen manchmal schwer, zwischen den beiden zu unterscheiden?
Ja. Deshalb ist das Internet in gewisser Hinsicht eine gefährliche Kraft. Unwahrheiten können propagiert werden. Zuvor gab es eine Art von Übereinkunft darüber, was die Wahrheit ist. Ihre Bedeutung veränderte sich mit der Zeit, aber es wurde offen und einvernehmlich darüber diskutiert. Im Internet wird das Ganze atomisiert, es gibt mehrere rivalisierende Wahrheiten an verschiedenen Orten – und eine Gruppe, der es möglich ist, die Zirkulation dieser Diskurse zu kontrollieren. Die Offenheit des Forums verschwindet in diesen Bedingungen der angeblichen freien Rede. Es separiert und isoliert die Rede, anstatt uns zusammenzubringen.