Der junge Carl Einstein liegt betrunken am Boden und rezitiert sein erstes Gedicht. Es seziert die Langeweile von Karlsruhe, am Großherzoglichen Gymnasium und in der Bank von Veit L. Homburger, wo er eine Lehre begonnen hat. Dank "Augmented Reality", computergestützter erweiterter Wahrnehmung, rekelt sich der spätere berühmte Kunstschriftsteller auf dem Bürgersteig vor dem ehemaligen Bankgebäude, in dem heute Vapiano zu Pizza und Pasta einlädt. Den virtuellen Auftritt kann erleben, wer die App Karlsruhe Maptory auf sein Mobilgerät geladen hat, erstellt 2015 vom Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM). Rund 30 Künstler, Wissenschaftler und Musiker sind mit der App im Stadtraum zu entdecken, mit Hörstücken, Videos oder szenischen Bildern.
Karlsruhe als Durchgangsstation für Intellektuelle: Auch Picassos Galerist Daniel-Henry Kahnweiler habe bei Homburger in Karlsruhe das Bankgeschäft gelernt, bevor es ihn nach Paris zog, erzählt der virtuelle Einstein. Prägend war die Stadt auch für den exzentrischen Rudolf Schlichter, einen der Maler der Neuen Sachlichkeit, der nach einigen Semestern an der Großherzoglichen Kunstakademie – wie Einstein – in Richtung Berlin weiterzog. Zuvor hatte er in der Residenzstadt noch eine Splittergruppe der linksgerichteten Novembergruppe namens Rih gegründet. Rih hieß das Pferd von Kara Ben Nemsi und entstammte wie Winnetou der Fantasie Karl Mays, der damals Kult war. Wer heute im Café Rih im Haus des Badischen Kunstvereins in der Waldstraße den App-Marker scannt, begegnet Schlichter, im Federschmuck Karl May rezitierend.
Auch wenn dank Maptory noch weitere Künstler wie Ellen Auerbach, Karl Hubbuch oder HAP Grieshaber und Architekten wie Egon Eiermann und Erich Schelling virtuell Gestalt annehmen, schien es für das ZKM erste Pflicht zu sein, an die Karlsruher Geistesgrößen der Naturwissenschaften zu erinnern. Die wirkten hauptsächlich auf dem alten Campus der Technischen Universität, heute KIT. Im Ehrenhof erinnert eine Büste des Physikers Heinrich Hertz an den Ort, an dem er die elektromagnetischen Wellen – und damit die Grundlagen für die Radiotechnik – entdeckte. Die App lässt eine futuristisch anmutende Apparatur vor dem roten Sandsteingebäude vibrieren. Um die Ecke im Foyer des KIT-Präsidiums klopft der Erfinder der Fernsehröhre, Karl Ferdinand Braun, von innen an die Mattscheibe eines Monitors. Ein paar Häuser weiter botanisiert der Chemiker Fritz Haber, auch „Vater des Gaskrieges“ genannt. In Karlsruhe habilitierte er, während seine Frau Clara, ebenfalls Chemikerin, sich dem Nachwuchs widmen musste. In einem vermauerten Fenster rezitiert eine Schauspielerin Claras Abschiedsbrief, in dem sie die Erfindung ihres Mannes verurteilt und erklärt, weshalb sie keinen anderen Ausweg sieht als Selbstmord.
Diese Station gehört für Bernd Lintermann, der das Projekt federführend betreut hat, zu den gelungensten Szenen, die eine Persönlichkeit schlaglichtartig erfahrbar machen sollen. "Für mich war Maptory ein großes Experiment", sagt der ZKM-Spezialist für Echtzeit-Computergrafik. Im Stadtraum müsse man mit unvorhergesehenen Ereignissen rechnen – und seien sie so harmlos wie der Versuch eines Passanten, die schwarz-weiße Standortmarkierung der App von einem Brunnen zu entfernen, weil er das Schildchen für Vandalismus hielt. Bis zum Sommer werden alle Stationen wöchentlich geprüft, danach soll es eine Museumsfassung im ZKM geben.