"Was ist ihr Bild von Schönheit?", fragte Sophie Calle Menschen, die blind geboren wurden. Könnten es Fische sein oder das offene Meer? Ein Sternenhimmel oder das eigene Kind, lächelnd im Pyjama? Das sind die verblüffenden Antworten, die Sehende sicher nicht erwartet hätten. Im Fotomuseum Winterthur hängen je ein Porträt der Befragten, ihre Antwort als Text und ein Abbild der Antwort: das heißt irgendein Meer und irgendein Sternenhimmel. Die Hängung ist streng konzipiert, und durch ihre Dreieinigkeit meint man, in das Innerste der Porträtierten, in ihre Gedanken schauen zu können. Und doch bleibt eine Lücke.
Diese Bild-Text-Kombinationen machten die 1953 in Paris geborene Konzeptkünstlerin, Fotografin und Filmemacherin in den 80er-Jahren bekannt. 2007 vertrat sie Frankreich auf der Biennale von Venedig. Gemeinsam mit Nadine Wietlisbach, der Leiterin des Fotomuseums, entwickelte Calle nun ihre erste monografische Ausstellung in der Schweiz, "Sophie Calle – Un certain regard". Die fünf weiten Säle beherbergen je ein "Projekt" - die Künstlerin spricht nicht von "Werken" oder "Oeuvre" - das zumeist in den letzten 15 Jahre entstanden ist.
Eine Schau über das, was fehlt
Die Schau widmet sich dem Abwesenden, dem Fehlenden, der Kraft der Imagination und der Fragilität der Erinnerung. Sie zeigt wie Vergessen in die persönliche, kulturelle und politische Sphäre eindringt. Für das Projekt "La Dernière Image - Das letzte Bild" (2010), fragte Calle Erblindete nach ihrem letzten visuellen Eindruck. Auf berührende Weise fasst eine Frau das Gesicht ihres Mannes in Worte der Liebe. Täglich streichele sie es, damit es nicht aus ihrem Kopf verschwinde. Das Foto von ihrem Ehemann wirkt neben der Beschreibung banal. Das ist die Lücke, die eigene Gefühle, Assoziationen und Vorstellungen schließen.
Das weiß auch die Politik und entfernt Spuren ungeliebter Systeme aus dem Stadtbild. Kurz nach dem Mauerfall bat Calle Berliner, sich die weggetragenen Marx- und Lenin-Statuen, Hammer und Sichel ins Gedächtnis zu rufen. Ihre bröckelnde Erinnerung fasste sie in einem Buch zusammen, das sie in Winterthur gemeinsam mit Aufnahmen der leeren Plätze präsentiert. Es hat etwas Geisterhaftes.
Jesus auf allen Vieren
Doch Sophie Calle kann den weiten Raum zwischen Wort und Bild auch komisch nutzen. Für ihr aktuellstes Projekt "Parce que – Weil" (2018), verdeckte sie ihre Bilder mit schwarzem Filz. Darauf druckte sie die Begründung, warum sie auf den Auslöser drückte. Eine lautet: "Weil ich in schallendes Gelächter ausbreche, als ich ihn plötzlich am Ende des Kirchenschiffs entdecke […] Weil ich mich frage, ob die Gläubigen das sehen, was ich sehe." Wer den Stoff hebt, erblickt einen sinnlich im Schmerz schwelgenden Jesus auf allen Vieren.
Der zweite Teil der Ausstellung "Sophie Calle – Regard Incertain" folgt im Herbst/ Winter im Kunstmuseum Thun.