Es fängt schon mit der Herausforderung an, zu beschreiben, welche Protagonistinnen hier auf der Leinwand und am TV-Display zu sehen sind. Die plötzlich die Straßen durchziehen, über Fahrradständern gelenkige Performances aufführen, mit nacktem Rücken durch den Raum tanzen.
Denn der ältere Mensch wird ja, genau wie der große, nichtschlanke, kranke, in sonstiger Weise nicht in die Norm passende, meist als Differenz beschrieben. Bisweilen auch dann, wenn er die gesellschaftliche Mehrheit ausmachen sollte: Erschlaffte Haut, gealterte Haut, ergrautes Haar, Pigmentflecken sind Begriffe dieses Abweichungsvokabulars. Die alternde Frau kommt in diesen Räumen erst recht ausgesprochen selten vor. Wie auch ihre Stimme gern, man kennt das vielleicht aus mancher Familie, von denen der Männer übertönt wird.
Jenen Frauen jenseits der 60, 70, manchmal 80 räumt der Kunstverein Arnsberg derzeit reichlich Raum ein. "Silver Boom" heißt die aktuelle Schau, die Arbeiten der Schweizer Filmemacherin und Performancekünstlerin Anna Anderegg versammelt: Gefilmte Dokumentationen von Mitmach-Performances im öffentlichen Raum und Choreografien, dazu Video-Screens mit Interviews, die Anderegg im schweizerischen Biel, im englischen Moss oder auch im westfälischen Detmold geführt hat. Der Besuch in diesem vielstimmigen Ensemble vergeht wie im Flug - nur würde man sich dazu noch ein paar Verdunkelungsvorhänge wünschen, um allen Frauen die volle Aufmerksamkeit zu widmen.
Frauenbewegung, Pille, Feminismus
Andereggs Gesprächspartnerinnen sind größtenteils in dem Land aufgewachsen, aus dem sie nun jeweils von ihrem Leben und ihren Erfahrungen berichten. Sie müssen ähnliche politische Entwicklungen durchlebt, die Frauenbewegung und die Entdeckung der Pille mitbekommen haben. Einige bezeichnen sich als Feministinnen, andere nicht; einige arbeiten in künstlerischen oder therapeutischen Berufen, andere waren den größten Teil ihres Lebens Haus- oder Ehefrau oder in ganz anderen Branchen tätig.
Doch auch aus dieser grundlegend ähnlichen Gemengelage heraus ergibt sich eine beachtliche Vielstimmigkeit. Junge Frauen heute, hört man hier zum Beispiel, seien sich der Kämpfe ihrer Mütter und Großmütter gar nicht mehr bewusst. "Ich denke, es geht eher wieder ein bisschen zurück."
Und obwohl man es besser weiß, erschrickt man vielleicht kurz, wie jung 66 oder 73 Jahre heute aussehen. Vorstellung und Realität klaffen auch bei vielen der hier Porträtierten auseinander. "Ich finde es wahnsinnig 'juice', in dieser Welt zu sein," sagt eine zitronengelb gekleidete Frau, die kein Problem mit ihrem Alter hat, aber mit der zugehörigen Zahl. Die meisten ihrer Freundinnen sind viel jünger, natürlich spricht man auch über Sex.
"Es ist sehr kompliziert"
Bemerkenswert ist, wie viel sich dann doch um Männer dreht in diesen Gesprächen. "Ich finde Deutschschweizer Männer ziemlich schwierig," gesteht eine Protagonistin, die einen Unterschied zwischen französisch- und deutschsprachigen Ländern ausgemacht hat. Auch Franzosen seien Machos, "aber damit kann ich umgehen." Spielerischer sei der französische Machismo. Und damit biete er natürlich zumindest eine Möglichkeit zur Begegnung auf Augenhöhe.
Eine andere Interviewpartnerin, die als Therapeutin arbeitet, fühlt mit ihren männlichen Klienten: Welche Gewalt ihnen angetan werde, sein zu müssen, was sie vielleicht selbst gar nicht sein möchten. Doch was heißt es nun, eine Frau zu sein? "Es ist sehr kompliziert", setzt eine Antwort an, oder schlicht: "Ich habe keine Ahnung."
Welche Fragen Anderegg ihren Interviewpartnerinnen stellt, wird nicht gezeigt. Aber die Themen drehen sich häufig um Kinder, Hausfrauendasein, Beruf, Ehe und Scheidungen, um den männlichen Blick, die Sichtbarwerdung im öffentlichen Raum. Hinzu kommen aktuelle Vorhaben und die Frage, was es nun, im sogenannten Alter, noch zu tun gibt. "Ich hatte als Frau viele Vorteile," erinnert sich eine Protagonistin, "ich hab‘ ziemlich gut ausgesehen. Was ich jetzt merke: Ich werde von Männern nicht mehr gesehen."
Die Sehnsucht nach Wertschätzung
Einige finden das schade, andere schätzen die Ruhe, sich nicht mehr ums Aussehen sorgen zu müssen. Und wieder andere entdecken eine neue, willkommene Form der Aufmerksamkeit: "Plötzlich werde ich von Frauen gesehen. Dadurch ergeben sich ganz neue Beziehungen."
Man möchte diese Vielstimmigkeit nicht wieder framen und verkürzen, denn jede einzelne Erzählung ist reflektiert, differenziert und geradezu spannend, weil so selten gehört. Wie die von Ulrike, 73, die ihrem Mann zuliebe zurück ins Sauerland ging und aus dem erfolgreichen Job ausstieg, um sich um die Kinder zu kümmern. "Ich habe gerne bewusst meine Kinder erzogen," erklärt die 73-jährige, die erst nach 27 Jahren wieder in den Beruf zurückkehrte. "Das war überhaupt kein Verzicht für mich. Aber die Wertigkeit, was ich da geleistet habe als Frau – diese Wertschätzung habe ich vermisst." Wenn sie jetzt noch einmal jung wäre, würde sie eine Hausfrauengewerkschaft gründen.
Noch unmittelbarer wird es im vorletzten Ausstellungsraum, der allein Stimmen ohne die zugehörigen Gesichter präsentiert. Eine Frau erinnert sich an die Freude, als ihre Kinder endlich aus dem Haus gezogen sind, und ergänzt: "Die Vorstellung, sie könnten wieder einziehen, fand ich schon erschreckend." Eine andere erschrickt vor der eigenen Endlichkeit: "Ich war neulich in Berlin und hörte, das Pergamon Museum schließt für 14 Jahre." Da kam der Gedanke auf: Lieber schnell noch einmal rein.
"Alles muss man pflegen"
"Silver Boom" überlässt die Erzählung ganz seinen Protagonistinnen. Nicht wenige hadern mit ihrem sich verändernden Körper: "Ich sehe sehr wenige Vorteile darin, alt zu sein. Und ich habe mich auch noch nicht damit abgefunden." Es sei nervig, wie viel Zeit nun alles koste, "da fängt man oben an und hört unten auf, alles muss man pflegen."
Und doch geht es darum, mit diesem alternden, imperfekten Leib den Raum auch für sich zu reklamieren. Im letzten, verdunkelten Ausstellungsraum läuft eine Choreografie über die Leinwand. Aus dem Off erklärt eine Stimme: "Wir leben einfach weiter. Mit dem Körper, den wir haben."