Vielleicht sind Fenster ein Anfang, um sich diesem gewaltigen Werkkorpus von Sibylle Bergemann zu nähern. In ihren Fotografien scheinen Glasscheiben oft eine Trennung zu markieren: Ein Blick aus einer befestigten, bewohnten Welt, der Schutzraum des Privaten ist, heimelig dekoriert. Das durchsichtige Material mildert bitterkalte Winter – was einmal als tödliche Jahreszeit gesehen wurde, gerinnt, aus dem Warmen betrachtet, zur romantischen Landschaft. Durch Fenster kann es ab und an ziehen, Vorhänge wallen sich, schließen Licht aus, das Glas scheidet die Klimazonen, daran kondensieren dampfende Gespräche. Lärm und Schmutz der Straßen rücken ab vom Betrachter, bleiben draußen. Pariser Fenster leiten das Jugendstil-Gepräge nach innen weiter.
Bergemann nimmt Fenster von außen auf, sie gehören zur Fassade, sind der dünnste, scheinbar fragilste Teil einer Membran, hinter der ein Rückzug stattfindet. Die Fenster können schmal wie Scharten sein und westafrikanisches Klima ausschließen, die Eleganz von Venedig vervielfältigen. Sie reduzieren, was wir von draußen sehen, inszenieren Privatheit oder ornamentale Opulenz, strukturieren eine Fassade, bilden die Muster der Stadt, spiegeln Menschen davor. Fenster sind ein häufiges Motiv vieler Fotografinnen und Fotografen, Sibylle Bergemann hat sie so häufig aufgenommen, dass sie ein eigenes Kapitel in ihren Arbeiten bilden.
Ein Motiv deutet die kühle, feuchte Verlassenheit eines Hauses mit einer zerbrochenen Fensterscheibe an. Eine glatte Hauswand ist vom Fenster durchbrochen, darunter Kinderkreidezeichnung als spielerischer Vandalismus, Putz und Fensterbrett bröckeln. Die Aufnahme selbst wirkt flüchtig, die Komposition kippt ein wenig.
Geschichten vom Innen und Außen
Wer an den 200 Aufnahmen der bisher umfangreichsten Sibylle-Bergemann-Schau in der Berlinischen Galerie entlanggeht, merkt schnell, wie sich Zeithistorie und Kunstgeschichte im Blick darauf verweben. Die Bilder lassen Deutungsangebote aufblitzen, entziehen sie eindeutiger Urteile: Die DDR hatte der bildenden Kunst den sozialistischen Optimismus, oft die Illustration einer technologisch gestützten Gegenwart als Wegbereiter zur freien Menschheit, verordnet. Fotografie wurde erst in den 1970er-Jahren überhaupt als künstlerische Disziplin wahrgenommen, wesentlich befördert auch von der litauisch-sowjetischen Schule um Antanas Sutkus.
Die zerbrochene Fensterscheibe über dem bröseligen Putz ist deshalb zugleich dokumentarische Haltung, die der Propaganda ihre Risse vorhält, wie sie auch als künstlerische Formensuche funktioniert: Der Alltag unterschied sich heftig von Versprechungen, die lichte Zukunft von der Gegenwart. Spiegelungen im Restglas, die fein herausgearbeitete Materialität des Holzrahmens mit der schon schuppigen Farbe, das Übereinander des Alten, Verbrauchten, mit dem Wildwuchs der kindlichen Kreidemalerei verraten eine ästhetische Beobachtung.
Sibylle Bergemann, 1941 südlich von Berlin geboren, 2010 bei Gransee in Brandenburg gestorben, erzählt fortwährend Geschichten vom Innen und Außen, von einer vergangenen Zeit und europäischen Realität: Ihre streng durchdachte Serie vergleicht im uniformen Wohnungsbautypus P2 das Wohnzimmer mitsamt Plastikledersitzen und gelegentlichem Fliesentisch. Die heimelige Kleinbürgerlichkeit hat noch einmal feucht durchgewischt, fast identische Vorhänge lassen Licht herein, aber schützen vor den Blicken der Nachbarn. Wer die Aufnahmen heute sieht, hat Mühe, nicht an ironische Zitate in den Hipsterwohnungen zu denken.
Das Interieur als Rückzugsraum
Bergemann ist in der DDR aufgewachsen, hat in ihr ein visuelles Sorium geschult, der Kontext liefert Möglichkeit, die Aufnahmen zu interpretieren – Rückzug ins Private bedeutete auch, dass sich der zutiefst misstrauische Staat anstrengen musste, seine Bürgerinnen und Bürger zu bespitzeln. Die missgünstigen Nachbarinnen und Nachbarn mussten abgewehrt werden, private Innenräume konnten Raum für Debatten zulassen, die sonst strafbewehrt gewesen wären.
Die Wohnungen von Bergemann und ihrem Lebensgefährten Arno Fischer waren steter Treffpunkt, hier wurde diskutiert, gestritten, getanzt, erzählen viele, die dabei waren. Die Wohnzimmer aus der P2-Serie deuten auch an, dass man Fenster schließen konnte, um sich ins Apolitische zurückzuziehen und sich der Ausstattung seiner Nische zu widmen. Wer allein die Fensterbilder aus der großartigen Ausstellung "Stadt, Land, Hund" untersucht, hat genug zu tun.
Dabei gibt es so viel zu sehen. Ihre bekannteste Werkgruppe "Das Denkmal" versammelt acht Aufnahmen aus den elf Jahren, in denen ein Kollektiv am Marx-Engels-Denkmal für Berlin arbeitete und es schließlich aufstellte. Bergemann begleitete die Arbeiten ab 1975: Das ikonische Bild der kopflosen Statuen vor dem dräuenden Wolkenhimmel ist vielfach verwendet, weil es genauso wie die Aufnahmen der verhüllten und verpackten Statuen Kippmomente weniger abbildet als selbst herstellt.
Die fröhliche Ambivalenz der Denkmäler
In ihnen bleibt ungeklärt, ob die Statuen auf- oder abgebaut werden, ob sie nun ausgepackt, oder gleich verstaut werden. Die Bilder übermalen die strenge Absolutheit, mit der die DDR sich an die Begründerinnen und Begründer eines angeblich "wissenschaftlichen Sozialismus" ketten wollte, schon weil sie eine fast fröhliche Ambivalenz verströmen, eine ironische Unterspülung, die dem schwebenden Engels trotz gebundener Arme zu Leichtigkeit verhelfen. Und wer nun glaubt, dass solche Aufnahmen in der DDR nicht gezeigt werden durften, ist gleich wieder in eine Falle getappt, die Wochenzeitung "Der Sonntag" druckte sie als halbe Seite.
Ein großes Kapitel sind Portraitaufnahmen von Frauen, herbe Schönheiten, Modeaufnahmen der "Sibylle" (später auch "Geo"), längere fotografische Dialoge mit Schauspielerinnen, Straßenszenen: Sibylle Bergemann balanciert dabei fortwährend auf einer schmalen Linie, die Vertrautheit und Nähe von Distanz und Zurückhaltung scheidet.
Die Aufnahmen machten sie in den 1970er-Jahren in der DDR bekannt, die Bilder für die "Sibylle" wirken einerseits improvisiert, hatten aber gar nicht so subtil gedachte Botschaften: Bergemann rekrutierte ihre Modelle oft aus dem Alltag, nahm ihre Tochter, inszenierte sie, Aufsässigkeit und Härte im Gesicht, mit Kleidungsstücken, die oft gar nicht erworben werden konnten, vor schwarz rauchende Schornsteine und uniformen Plattenbauten.
Der weibliche Blick
Mit Arbeiten für das Magazin und den oft privat verfolgten Porträtserien setzte sie den in der DDR alltagspräsenten patriarchalen und bourgeoisen Strukturen, auf die Susanne Altmann im vorzüglichen Katalog hinweist, einen weiblichen Blick entgegen, der ganz intuitiv zu funktionieren scheint. Im Katalog finden sich auch Bergemanns Bemerkungen über Fotografinnen in der DDR, die es schwer hatten, weil die Emanzipation hier "noch nicht stattgefunden" habe.
Über drei Jahrzehnte nach dem Kollaps des Kleinbürgersozialismus aber kann man durch die großen Räume des Museums laufen und bemerken, dass sich die Bilder langsam von der engen Deutung durch den Arbeiter- und Bauernstaat lösen. "Stadt, Land, Hund" schmückt sich nicht mit dem Titel einer Retrospektive, weil vermutlich längst noch nicht alle Ausmaße des Werkkorpus durchleuchtet sind. Sie zeigt, wie vielschichtig Bergemanns Blick war und lässt Raum für die Vermutung, dass sie genau deshalb auch nach 1990 Bilder aufnahm, die bis heute wirken. Anders als bei etlichen, oft männlichen Zeitgenossen, endet ihre Fotografie nicht mit dem Verlust eines politischen Gegenübers.
Das mag damit zusammenhängen, dass Sibylle Bergemann in einem tieferen Sinn verstand, dass Fotografieren eine Lebenseinstellung ist. Eine konstante Beobachtung, der ein klares Verständnis dafür vorausgeht, warum sie Film belichtete: Das erklärt sie selbst in einem nüchternen Satz eines unveröffentlichten Typoskripts, den der Katalog abdruckt: "Die Fotografie ist, wenn sie ernsthaft und mit Ambitionen betrieben wird, eine sinnlich wahrgenommene und mitgeteilte Auffassung von Menschen und ihren Beziehungen, von Dingen und ihren Zusammenhängen, was stets heißt: in ihrem Bezug zu den Menschen."